Tübingens Oberbürgermeister zur Bewältigung der Flüchtlingszahlen

"Leerstehenden Wohnraum nutzen"

Für das laufende Jahr werden bis zu 800.000 Asylbewerber und Flüchtlinge in Deutschland erwartet. Im Interview spricht Tübingens grüner Oberbürgermeister Boris Palmer über die Schwierigkeiten der Städte und Gemeinden, die Menschen unterzubringen.

Keine Alternative im Winter: Zelte für Flüchtlinge (dpa)
Keine Alternative im Winter: Zelte für Flüchtlinge / ( dpa )

domradio.de: "Wir kriegen das hin", hat der Bundesinnenminister gestern gesagt. Was haben Sie gedacht, als Sie diese Worte gehört haben? Schön, dass da jemand Mut zuspricht? Oder: Der hat ja keine Ahnung, wie's bei uns zugeht?

Boris Palmer (Oberbürgermeister Tübingen/Bündnis 90 Die Grünen): Von beidem etwas. Ich bin auch der Meinung, dass wir es hinbekommen werden, aber mit den bisher zur Verfügung gestellten Mitteln werden wir es nicht schaffen. Die Bundes- und Landespolitik scheint den Ernst der Lage noch nicht ganz erkannt zu haben. Sonst würden sie mehr tun.

domradio.de: Wie ist die Situation in Tübingen? Wie sieht es aus mit Wohnraum und Material?

Palmer: Wenn sie heute Material bestellen, kommt es im Frühjahr. Für den Winter nützt das niemandem. Zelte sind da die Ausnahme, aber eine Zeltunterbringung will noch niemand. Aber z.B. Wohncontainer und Duschcontainer sind praktisch ausverkauft, der Markt ist leer. Es gibt nur eine Chance, diese Anzahl von Flüchtlingen, von denen vor drei Monaten noch keine Rede war, weil die Schätzungen der Bundesregierung weit darunter lagen, anders unterzubringen als in Zelten oder im Bestand. Zelte sind im Winter keine Lösung, das heißt, wir müssen uns nach leerstehenden Gebäuden umschauen.

domradio.de: Sie sind in Gesprächen mit Hausbesitzern, um neuen Wohnraum zu mieten oder auch zu kaufen in Tübingen. Aber diese Gespräche scheinen nicht sonderlich erfolgreich zu laufen. Sind die Tübinger etwa nicht so flüchtlingsfreundlich wie anderswo?

Palmer: Doch, ich glaube sogar, wir sind flüchtlingsfreundlicher als die meisten anderen, wenn ich das als Oberbürgermeister sagen darf, der stolz auf die eigene Bevölkerung ist. Aber es geht ja nicht darum, was 85.000 Tübinger denken. Die Frage ist, ob 10 oder 15 Eigentümer leerstehender Häuser bereit sind, ihr Eigentum der Verpflichtung zur Verfügung zu stellen, dort Menschen unterzubringen. Diese 10 oder 15 Bürger muss ich überzeugen. Wenn ich das mit Miete oder Kauf schaffe, ist mir das sehr viel lieber. Aber zur Not bin ich auch bereit, polizeigesetzliche Maßnahmen zu ergreifen, bevor ich Obdachlosigkeit in meiner Stadt hinnehmen muss.

domradio.de: Dann hat man ein Gebäude und ein Dach über dem Kopf. Aber sind diese Räumlichkeiten in leerstehenden Häusern denn wirklich bewohnbar?

Palmer: Es gibt natürlich Gebäude, die müssen erst wieder instandgesetzt werden. Wir wissen aber auch von Gebäuden, die innerhalb von vier Wochen hergerichtet werden können und problemlos als Wohnraum nutzbar wären. Auf diese Gebäude konzentrieren wir uns natürlich. Es gibt Menschen, die es nicht nötig haben zu vermieten. Die lassen einfach ein großes Haus leer stehen über viele Jahre. Das können wir nicht mehr tolerieren.

domradio.de: Warum sind manche Hausbesitzer angesichts der Dringlichkeit dennoch nicht bereit zu kooperieren?

Palmer: Viele fangen jetzt an zu kooperieren, ich bin da ganz zuversichtlich. Aber es gibt auch Eigentümer, bei denen die persönlichen Umstände schwierig sind, häufig sind das sehr alte Eigentümer. Aber auch denen kann man zumuten, dass ihr Haus im Winter für ein halbes Jahr gegen Geld genutzt wird.

domradio.de: Bekommen Sie Hilfe von Land und Bund?

Palmer: Für die Unterbringung sind wir selbst zuständig, da will ich auch keine Hilfe. Aber ich finde schon, dass sich Bund Länder auf eine Beschleunigung der Asylverfahren einigen müssen. 300.000 unerledigte Asylanträge sind doch eine Unglaublichkeit, und das nur, weil der Bund nicht ausreichend Personal zur Verfügung gestellt hat. Es ist schwer einzusehen, dass man Menschen, die keine Aussicht auf Asyl haben, erstmal auf Städte und Gemeinden verteilt, wir diese Menschen dann unterbringen müssen, um sie dann mit großem Aufwand in die Herkunftsländer zurückzuführen. Das ist schlechte Organisation. Das kann Deutschland besser. Wenn die oberen staatlichen Ebenen ihre Hausaufgaben machen, werden wir in den Kommunen schon klarkommen.


Quelle:
DR

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