Spanien unter Ausgangssperre - Erinnerungen an düstere Zeiten

Die Stunde der Denunzianten

In Krisenzeiten wie diesen zeigen liberale Gesellschaft offenbar schnell ein anderes Gesicht. Notizen aus einem Staat im Ausnahmezustand, dessen Bürger sich schon gegenseitig überwachen.

Autor/in:
Andreas Drouve
Die Straßen in Spanien sind menschenleer / © Emilio Morenatti/AP (dpa)
Die Straßen in Spanien sind menschenleer / © Emilio Morenatti/AP ( dpa )

Barcelonas Stadtpolizei wird derzeit von einer Telefonlawine der unangenehmen Art überrollt. Täglich schwärzen über 300 Anrufer ihre Mitbürger an, die offenbar die auferlegte Ausgangssperre missachten. Das Ausgehverbot gilt in Spanien noch bis mindestens zum Osterwochenende.

Lebenslust schlägt um in Frust und Missgunst

Dabei weckte Spanien lange so ganz andere Assoziationen: lockere, lebenslustige Atmosphäre, Freude an Fiestas und Lärm, ausgelassener Kneipenkultur. Jetzt, da die Normalität Kopf steht, schlägt die spanische Lebenslust mancherorts in Frust, Missgunst und Denunziationen von Nachbarn um. Oder in Häme und Beschimpfungen, wie ein Video in den Sozialen Netzwerken zeigt.

Eine Joggerin, die die Ausgangssperre missachtet hat, wird am Rand eines Parks von zwei Polizisten festgehalten und wie eine Schwerstkriminelle brutal auf den Boden gedrückt. Ihre Hilfeschreie quittieren mehrere Beobachter mit unsäglichen Schimpftiraden und einem Vokabular tief unter der Gürtellinie. Das schöne Motto "Leben und leben lassen" gilt anscheinend nicht mehr.

Die Menschen stehen unter Beobachtung

Plötzlich steht man überall unter Beobachtung, spürt Augen allerorten. Ein ungutes, bedrückendes Gefühl, das manchen Älteren beinahe ein bisschen an die düsteren Zeiten der Franco-Diktatur bis 1975 erinnert. Jesus Hernandez (76), Theologe, ehemaliger Pastor und emeritierter Professor der Sozialwissenschaften an der öffentlichen Universität von Navarra, kennt auch die deutsche Gesellschaft gut. Die "Tendenz, andere anonym anzuzeigen", sieht er bis heute als Überbleibsel von Staaten, in denen "totalitäre Regimes" herrschten.

Strenge Regeln für das öffentliche Leben

In Spanien darf man zum Einkaufen und Arbeiten noch hinaus, ebenso zum Arzt und zur Apotheke. Toleriert werden auch Gassigänge von Hundehaltern und Besuche in Kirchen. Dazu halten manche Gotteshäuser eigens ihre Pforten geöffnet. Ein Gebet, eine persönliche Andacht kann einem niemand verwehren. Diese Möglichkeit ist in schweren Zeiten sicher nötiger denn je. Entgegen anders lautender Meldungen ist es sogar möglich, Gottesdienste zu besuchen, wie Stichproben von Sonntag gezeigt haben. Allerdings fand sich kaum eine Seele in den Kirchenbänken ein. Die Kommunion wurde auch nicht ausgeteilt.

Bei Verstößen drohen harte Strafen

Wer nachweislich gegen die Ausgangssperre verstößt, wird hart bestraft. Bußgelder von einigen hundert Euro sind die Regel, selbst Inhaftierungen möglich. Im Baskenland und in Galizien gab es bereits harte Sanktionen gegen Bürger, die es übertrieben haben. So kursieren Berichte über einen unbelehrbaren Surfer, einen vermutlich von der Nachbarschaft denunzierten Hundehalter, der mit seinem Vierbeiner innerhalb weniger Stunden achtmal Gassi ging, und einen Motorradfahrer, der laut eigenen Angaben "nur Brot kaufen" wollte - allerdings 20 Kilometer von seinem Wohnort entfernt, wo er in eine Polizeikontrolle geriet.

Skurrilere Geschichten von Leuten, die Plüschhunde an Leinen hinter sich herzogen, gibt es auch. Und als eine Frau im nordspanischen Pamplona im "Minnie Mouse" -Kostüm allein vor die Türe trat und in die Nachbarschaft winkte, um die Dramatik der Lage ein wenig zu entschärfen, verstand man keinen Spaß, sondern verständigte umgehend die Polizei.

Wie lange kann man Menschen einsperren?

Die unschönen Folgen des Lebens in begrenzter Freiheit werden von Politik und Behörden lieber verdrängt. Wie lange lassen sich Menschen einsperren, ohne an die frische Luft zu dürfen, während zu Hause die Wände immer enger und die Decken immer niedriger werden? Das ist derzeit in Deutschland liberaler gelöst, noch. In Spanien zeigt der Kontroll- und Überwachungsstaat dagegen schon seine Zähne. Zudem nimmt die häusliche Gewalt zu. Sogar Fluchtpunkte wie gemeinschaftliche Dachterrassen darf man offiziell nicht mehr nutzen, selbst wenn man genügend Abstand zu anderen wahrt oder alleine ist.

Aus Angst vor Denunziationen sind manche Anwohner dazu übergegangen, Laken und Decken als Sichtschutz aufzuhängen. Doch die Kontrollen kommen auch aus der Luft, etwa per Hubschrauber. Und in der Dunkelheit setzen die Sicherheitsbehörden sogar Drohnen mit Wärmebildkameras ein. Für die Nach-Krisenzeit zeichnet Theologe und Sozialwissenschaftler Hernandez ein düsteres Bild: "Enger Platz führt zu Aggressionen. Danach könnten Konflikte erst recht explodieren."


Eine Frau sitzt in Spanien auf ihrem Balkon während der Ausgangssperre / © Alvaro Barrientos/AP (dpa)
Eine Frau sitzt in Spanien auf ihrem Balkon während der Ausgangssperre / © Alvaro Barrientos/AP ( dpa )
Quelle:
KNA