NSU-Opferbeauftragte für weitere Erinnerungsschritte

Gemeinsam gegen Rassismus

Ein Jahr nach Aufdeckung der rechtsextremen Zwickauer Terrorzelle sind am Sonntag in rund 30 Städten Neonazi-Gegner auf die Straße gegangen, um gegen Rassismus zu protestieren. Zugleich gedachten sie der Opfer der NSU-Morde. Die NSU-Opferbeauftragte, Barbara John, mahnt weitere Schritte zur Erinnerung an den Neonazi-Terror an.

 (DR)

epd: Wie geht es den Angehörigen der Opfer am Jahrestag der Aufdeckung der NSU-Mordserie?

Barbara John: Sie leisten seelische Schwerstarbeit, auch und gerade an solchen Jahrestagen. Das sind Zeiten, wo alles wieder nach oben gespült wird und wo sich die Hinterbliebenen tagelang wie krank fühlen. Die Angehörigen haben lange Zeit allein mit all dem fertig werden müssen. Erst seit einem Jahr nimmt die Öffentlichkeit an ihrem Schicksal Anteil.



epd: Stimmt der Eindruck, dass in der Öffentlichkeit inzwischen eigentlich mehr über geschredderte Akten als über die Angehörigen der Opfer gesprochen wird?

John: Es ist ja eine ganz wichtige Aufgabe für uns alle, die Ursachen für diese entsetzlichen Ereignisse und über das Versagen der Behörden herauszufinden. Und diese Ursachen kann man nur bei den Ermittlern finden. Bisher ist ja noch gar nichts aufgeklärt. Jedoch gibt es schon die Erkenntnis, dass mit den vorhandenen Strukturen diese rechtsextremistische Mordserie offenbar nicht aufgedeckt werden konnte, also die unfassbare Erkenntnis: Die deutschen Sicherheitsbehörden waren bei dieser Mordserie völlig überfordert. Sie hatten weder die notwendigen professionellen Kompetenzen noch die erforderliche innere Freiheit in alle Richtungen zu ermitteln.



epd: Was müsste sich denn verändern, dass so etwas künftig nicht mehr über Jahre unentdeckt bleiben kann?

John: Aus meiner Sicht ist bei den Untersuchungen schon offenbar geworden, dass alle bei ihrer Arbeit mehr an sich, an ihre Behörde denken als an den eigentlichen Zweck ihrer Aufgabe, nämlich die Menschen vor Angriffen zu schützen. Es scheint eine Organisationslogik zu geben, nach der neue Ideen, Widerspruch zu herrschenden Ermittlungskonzepten kaum geduldet und nicht gefördert werden. Wir brauchen mehr Flexibilität und Offenheit, eine Haltung, die nicht den Schutz der Behörde vor den Schutz der Bürger stellt. Darüber muss sich Politik Gedanken machen.



epd: Wie viele Gespräche mit den Angehörigen der Opfer haben Sie in den zurückliegenden Monaten geführt?

John: Hunderte. Für jeden einzelnen Fall ungefähr 30 bis 40 Briefe, Telefonate, Anschreiben... Dabei geht es um Staatsangehörigkeitsfragen, Aufenthaltssicherung, Passbeschaffung, Wohnungsbeschaffung, Kontakt zu Krankenhäusern und Berufsgenossenschaften, Opferrenten, Arbeitssuche, Militärdienstbefreiung, Deutschkurse. Es geht auch um Rückzahlungen, beispielweise der Rückführungs- und Beerdigungskosten, die am Anfang nicht übernommen wurden.



epd: Wie lange brauchen die Opfer Sie als Ombudsfrau noch?

John: Da bin ich selbst mal gespannt. Im Moment ist die Unterstützung noch voll im Gange. Wer soll es denn auch machen? Ich denke, es ist wichtig, dass jemand da ist, der nicht in Hierarchien eingebunden ist, der sich nicht hinter Zuständigkeitsgehabe versteckt. Die Autorität des  Amtes hilft oft, dass sich die Opfer nicht ganz hinten anstellen müssen. Das mussten sie seit Jahren und erreichten nichts.



epd: Die Idee, in den Städten der Opfer Gedenktafeln aufzustellen, kommt von Ihnen. Noch ist sie nicht komplett verwirklicht. Ärgern Sie sich darüber?

John: In drei Orten haben wir ja inzwischen bereits Gedenkstätten, nämlich in Kassel, Dortmund und Heilbronn. Außer in Rostock gibt es auch die ausgefertigten Gedenktafeln in allen anderen Orten. In Nürnberg wird noch ein zentralerer Platz gesucht. Auch Hamburg ist in Bearbeitung, München ist noch ungeklärt. Rostock tut sich schwer.



Köln hat noch gar nichts unternommen. Das liegt zum Teil daran, dass sich die Städte auf die Wünsche und Vorstellungen der Hinterbliebenen einlassen müssen. Ich habe übrigens von Anfang an dazu geraten, die Angehörigen der Opfer mit einzubeziehen. Dass es dann auch unterschiedliche Vorstellungen geben kann, ist natürlich.  



epd: Ist den Angehörigen ein Gedenkort wichtig?

John: Es ist ihnen außerordentlich wichtig. Für sie ist es praktisch eine Verlängerung der öffentlichen Gedenkveranstaltung vom 23. Februar dieses Jahres. Dadurch wird den Familien auch nochmals in der Öffentlichkeit deutlich gemacht, dass sie die unschuldig Geschädigten sind. Und auch alles, was da jahrelang an Anschuldigungen in der Lokalpresse herumgeisterte, wird damit ausgeräumt.



epd: Reichen diese Gedenkzeichen oder sind noch andere Formen des Erinnerns notwendig?

John: Ich denke, dass die Bundesregierung eine Stiftung errichten sollte. Eine Stiftung, in der dieses einschneidende Ereignis in vielen Aspekten beleuchtet wird, eine Stiftung, die Präventionsaufgaben übernehmen kann, die auch die Familien der Opfer, die Hinterbliebenen, in die Arbeit einbezieht und zusammenführt. Sie wohnen in verschiedenen Städten. Einige kennen sich und halten Kontakt, aber längst nicht alle. Eine Stiftung wäre eine nachhaltige Form des Gedenkens, das mit der zentralen Gedenkfeier am 23. Februar dieses Jahres und den Gedenktafeln doch nicht beendet sein darf.





Das Interview führten Corinna Buschow und Jens Büttner (epd)





Hintergrund

Ein Jahr nach Aufdeckung der rechtsextremen Zwickauer Terrorzelle sind am Sonntag in rund 30 Städten Neonazi-Gegner auf die Straße gegangen, um gegen Rassismus zu protestieren. Zugleich gedachten sie der Opfer der "NSU-Morde". Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) sprach den Angehörigen der Opfer sein Mitgefühl aus. Der NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags will die Mordserie der Zwickauer Rechtsextremisten bis zum nächsten Sommer aufgeklärt haben.



Am 4. November vergangenen Jahres war die rechtsextreme Gruppe "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) aufgeflogen. Sie soll für eine Mordserie in den Jahren 2000 bis 2007 verantwortlich sein, bei der neun Kleinunternehmer ausländischer Herkunft und eine Polizistin starben.



Kritik an Ermittlungspannen

In Bochum gedachten etwa 130 Menschen, darunter die Linken-Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen, friedlich der Mordopfer.

Redner kritisierten zudem die Fehler und Pannen der Ermittlungsbehörden im Fall NSU. Sie seien offenbar "Teil des Problems und nicht Teil der Lösung", sagte ein Sprecher des Bochumer Forums für Antirassismus und Kultur. Weitere Kundgebungen gab es unter anderem in Berlin und Hamburg.



Innenminister Friedrich erklärte am Samstag in Berlin mit Blick auf die NSU-Mordserie, er fühle sich verpflichtet, dafür zu sorgen, "dass alles getan wird, damit so etwas in Deutschland nie wieder passiert". Zusammen mit den Ländern sollten ein besserer Informationsaustausch und eine bessere Koordination der Verfassungsschutzbehörden erreicht werden.