Roger Willemsen über Jugend in Afghanistan

Raus aus dem Phlegma

Der Schriftsteller Roger Willemsen warnt davor, dass Afghanistan aus dem Blick der Weltgemeinschaft gerät. Im domradio.de-Interview spricht er über muskelbepackte Teenager und afghanische Studentinnen, die die Zukunft ihres Landes mitgestalten wollen. Willemsen war vor kurzem am Hindukusch unterwegs.

 (DR)




domradio.de: Sich in dieses unberechenbare Gebiet Kabul und Umgebung zu begeben, da gehört schon etwas Mut dazu, oder?

Roger Willemsen: Ich bin ein bisschen unter der Last, dass inzwischen alle deutschen Prominenten nur noch zur Bundeswehr zu reisen scheinen und sich da einbuddeln. Von Kurt Krömer über Till Schweiger und Peter Maffay hört man eigentlich nur noch davon. Man hat das Gefühl, das zivile Afghanistan wird nicht mehr gesehen. Deshalb interessiert es mich, in die Schulen zu reisen, mich mit Feministinnen zu treffen, nach sieben Jahren die Frauenfußballnationalmannschaft wiederzusehen oder um mit Kriegern zu sprechen. Es gibt dieses zivile Afghanistan und was es einen am häufigsten fragt, ist: Was wollt Ihr hier?



domradio.de: Bei Ihnen ist es ja klar, Sie wollen helfen, z.B. beim Bau von Brunnen. Es ist ja nicht Ihr erster Besuch in Afghanistan gewesen, hat sich das Land seit Ihrem letzten Aufenthalt verändert?

Willemsen: Ja, dramatisch. Man kann sagen, auf der einen Seite sind die Verteilungswege für die Wohlstandsgüter klarer geworden. Auf der anderen Seite ist die Sicherheitslage bedenklicher als sie war. Die Taliban haben mehr Zuspruch als sie je hatten und diese Identifikationskraft, die von einem starken Feindbild ausgeht, und das wird eben zu einem guten Teil von den Amerikanern und den alliierten Truppen gebildet, führt den Taliban in Scharen die Anhänger zu. Insofern kann ich nicht gerade sagen, dass es im großen Stil besser geworden ist. Ich kann aber sagen, dass es eine mediale Öffentlichkeit gibt, in der Feminismus als Thema existieren kann. Ich habe in Kabul noch nie so wenige Frauen mit Burka gesehen und ich sehe eine ganz starke hungrige Jugend, die in den Schulen und in den Universitäten sitzt, mit denen man lebendig diskutiert, darüber, wie sich dieses Land zu verändern hat.



domradio.de: Sie waren im August auch in Kabul an der Universität und haben den Germanistik-Studenten dort  Rede und Antwort gestanden. Was sind die Themen, die diese jungen Menschen bewegen?

Willemsen: Wissen Sie, das Neue ist, dass es eine Art afghanischer Selbstkritik gibt. Dass sie sagen, wir können nicht immer nur nach Außen zeigen, wir können nicht immer nur von den Russen und den Amerikanern und den Besatzern sprechen, wir müssen unsere Stammeskonflikte nützen und wir müssen ins Parlament . Da ist die Jugend, die ihnen da auf der einen Seite gegenübersitzt und die muskelbepackt ist, in die Fitnessstudios geht und die westliches Leben durch das Fernsehen kennt. Sie werden allmählich aus so einem Phlegma herausgehoben.



Wenn die kleinen Mädchen eine Stunde unterwegs sind, um sich in eine Klasse zu setzen, dann wollen sie an der Bildung teilnehmen und damit auch an der Geschichte des Landes. Da gibt es so viele kleine Kinder, die ihre Eltern bereits erziehen. Die Eltern sind Analphabeten und die Kinder lesen ihnen die Zeitungen vor und sagen, ob die Nachrichten wichtig sind oder nicht. Das sind schon Ansätze, wo aus der Jugend vor allen Dingen eine gewisse Hoffnung kommt.



domradio.de: Der afghanische Frauenverein unterstützt das ja ganz konkret, in dem Schulen gebaut werden, Lehrer ausgebildet werden, Kindern insbesondere Mädchen Bildung nahegebracht wird. Sie haben ja auch einige afghanische Kinder getroffen, welche Fragen haben Ihnen denn die Kinder gestellt? Was bewegt die ganz Jungen?

Willemsen: Die Kinder wollen vor allen Dingen wissen, wie sich die Sicherheitslage entwickeln wird. Die Kinder sind gefährdet davon, dass auf den Schulwegen Minen angebracht werden, von denen man nicht weiß, wer sie dort hingelegt hat. Sie sind immer wieder ängstlich, wenn sie das Gefühl haben, Kriegshandlungen kommen wieder. Sie interessieren sich bereits für 2014 (bis Ende 2014 sollen sämtliche Kampftruppen aus Afghanistan abgezogen sein, Anm. d. Red.) und sehen mit Furcht auf den Zustand, der dann entstehen kann, das heißt nicht, dass die Truppen bleiben sollen, das heißt, dass einfach die Lage in den letzten Jahren immer schlechter geworden ist. Die Kinder haben eine hohe politische Bildung, weil sie auch unablässig fragen, warum haben wir kein Wasser und dann erklärt man ihnen, warum das so ist. Oder warum hat der Onkel nur ein Bein und dann erklärt man ihnen welcher Warlord das war, der ihm dieses Bein gekostet hat. Insofern ist das so eine Bildung, die direkt aus der Erfahrung kommt, daraus nehmen sie ihre Fragen.

Sie sind ganz auffällig wenig am Showgeschäft interessiert. Keine will Sängerin werden, keine will Schauspielerin werden. Wenn man fragt warum, dann sagen sie, das sind unehrenhafte Berufe und wenn man weiter fragt, dann sagen sie, nein, das kann man ja privat machen, aber man muss sich doch am Aufbau des Landes beteiligen, man muss doch Wissen weitergeben. Die meisten wollen Lehrerinnen oder Ärztinnen werden.



domradio.de: Das ist sehr bewegend, was Sie erzählen. Kinder, die eben  seit sie auf der Welt sind Bürgerkrieg erlebt haben und Tod und Leid. Was sind denn nun die vordringlichsten Aufgaben, die sich dem afghanischen Frauenverein jetzt stellen, auch mit Blick auf 2014?

Willemsen: Das ist ein abgewracktes Wort, aber ich muss es trotzdem verwenden, es ist Nachhaltigkeit. Wir müssen sicherstellen, dass die Schulen, die wir unterhalten, auch in zehn Jahren noch existieren. Wir haben zum ersten Mal eine Abgangsklasse, die jetzt auch als Lehrerinnen in den Schulen wieder eingesetzt werden kann. Also die wir von der ersten Klasse an unterrichtet haben, die studiert haben und die jetzt wieder vor der Klasse stehen. Das ist wirklich beglückend zu sehen, wie dieser Kreis sich schließt. Das Schlimmste wäre, zu sagen, wir können diese Schulen nicht mehr unterhalten. (Um das zu verhindern, Anm. d. Red.) dazu braucht man natürlich auf der einen Seite die Unterstützung aus Deutschland, aber wir brauchen eben auch das Interesse der Weltöffentlichkeit. Das Schlimmste wäre, wenn man 2014 sagen würde, Afghanistan ist durch. Man sieht einen richtigen Schrecken in den Gesichtern der Kinder, wenn man ihnen sagt, denkt mal daran, dass eines Tages sich die Welt für euch gar nicht mehr interessieren könnte, das können Sie sich nicht vorstellen!



Das Interview führte Birgitt Schippers (domradio.de)