Menschenrechtsexperte zu den Ursachen der Gewalt in Nigeria

Das Übel der sozialen Ungerechtigkeit

Bei zwei Anschlägen auf Christenversammlungen sind im Norden Nigerias mindestens 19 Gläubige getötet worden. Zahlreiche Menschen wurden verletzt. Der Verdacht richtet sich gegen die radikal-islamische Sekte Boko Haram. Im domradio.de-Interview: Der Menschenrechtsexperte Berthold Pelster von Kirche in Not zur aktuellen Situation in Nigeria.

 (DR)

domradio.de: Noch hat sich niemand zu den Angriffen bekannt - glauben Sie trotzdem, dass die Anschläge auf das Konto von Boko Haram gehen?--
Berthold Pelster: Letzte Gewissheit haben wir da noch nicht, aber es sieht alles danach aus, dass es wieder Mitglieder dieser Terrororganisation gewesen sein könnten, denn in den vergangenen Monaten gab es viele solche Anschläge, zu denen sich Boko Haram bekannt hat. Zu dem aktuellen noch nicht, aber alles sieht danach aus.

domradio.de: Vor allem im Norden des Landes sind die Christen in der Minderheit. Ist das ein reiner Glaubenskonflikt?--
Pelster: Nein, ich glaube, dass die Ursachen sehr viel tiefer liegen. Natürlich spielen religiöse Motive eine Rolle, vor allem bilden sich Gruppierungen entlang religiöser und auch ethnischer Linien, d.h. Muslime tuen sich eher zusammen als gemischte Gruppen. Aber im Tiefsten hat es mit sozialer Ungerechtigkeit zu tun, das ist jedenfalls unsere Beobachtung. Nigeria ist vom Grundsatz her ein reiches Land, hat reiche Bodenschätze, hauptsächlich Erdöl, aber die Gewinne, die Erlöse aus diesen reichen Bodenschätzen kommen nur bei einer ganz kleinen Elite an und große Teile der Bevölkerung leben in bitterster Armut. Seit vielen Jahrzehnten ändert sich an dieser Lage nichts und dagegen begehrt diese terroristische Gruppe auf.

domradio.de: Ist denn der Wohlstand auch nach Religionszugehörigkeit unterschiedlich verteilt?--
Pelster: Das ist nur indirekt der Fall: Also Tatsache ist, dass vor allem die Erdölvorkommen im Süden Nigerias liegen, und das ist nun mal aus bestimmten Gründen die christlich geprägte Region des Landes, während der Norden bis zur Sahelzone reicht, dort gibt es kaum Bodenschätze und dort konzentrieren sich die Muslime. Aber in einem gerechten Staat käme es zu einem Ausgleich zwischen den armen und reichen Schichten der Bevölkerung, aber das ist in Nigeria nicht der Fall.

domradio.de: "Wir haben die Sache im Griff", hat der nigerianische Präsident Goodluck Jonathan letzte Woche zu Bundeskanzlerin Angela Merkel gesagt, und meinte damit Boko Haram. War das nur leeres Gerede?--
Pelster: Also hinsichtlich der terroristischen Gewalt in den letzten Monaten trifft das meiner Meinung nach nicht den Punkt. Wir haben eher den Eindruck, dass die Regierung mit den Gewaltproblemen bisher überfordert ist. Man weiß zum Beispiel gar nicht genau, wer eigentlich hinter dieser Gruppe Boko Haram steckt. Man weiß nicht, wie viele Mitglieder diese Gruppe hat, woher sie ihr Geld bekommt, woher sie Waffen erhält. Es gab sogar Vermutungen, dass Sympathisanten, ja sogar Mitglieder von Boko Haram in der Regierung sitzen. Aber all das ist bislang wenig durchschaubar.

domradio.de: Die Anschläge richten sich ja auch gegen Medien, die Tageszeitung "This Day" war auch Ziel eines Anschlags. Was müsste der nigerianische Staat tun, um solche Anschläge gerade gegen Christen zu verhindern?--
Pelster: Zunächst einmal muss Aufklärung betrieben werden, wie ich gerade sagte, gibt es zu wenig Informationen über die Hintergründe. Da müsste die Polizei besser recherchieren, was natürlich nicht einfach ist. Dann müssten die Sicherheitskräfte mehr tun, um die Christen zu schützen. Es gibt zwar immer wieder Versuche der Polizei, Gottesdienste vor Anschlägen zu bewahren, aber das gelingt nicht immer. Und es gibt unter den Christen inzwischen auch Überlegungen, vielleicht eigene Sicherheitskräfte zu organisieren, um sich selbst zu schützen. Also der Staat versagt da in manchen Punkten noch. Und vor allem auch die Strafverfolgung liegt in Nigeria noch sehr im Argen.

domradio.de: Ist Selbstschutz denn der richtige Weg? Wenn man die Meldungen aus Nigeria liest, dann hat man subjektiv den Eindruck, dass die katholische Kirche ein Stück weit hilflos ist.--
Pelster: Na ja, gerade im Norden Nigerias ist die Kirche ein kleine Minderheit. Die Christen haben da einen Anteil an der Gesamtbevölkerung von vielleicht 5 oder max. 10%, je nachdem um welche Region es sich gerade handelt, manchmal noch weniger. Dort sind die Christen auf den Staat und seine Sicherheitskräfte angewiesen. Wenn die Polizeitruppe aber nur aus Muslimen besteht, dann gibt es immer eine gewisse Tendenz, dass die Polizei sich parteiisch verhält und den Schutz der Christen nicht wirklich ernst nimmt oder, wie ich vorhin sagt, die Strafverfolgung liegt im Argen, d.h. die Polizei tut zu wenig, um Attentäter zu verfolgen und ausfindig zu machen.

domradio.de: Das heißt, wir müssen weitere Anschläge befürchten?.--
Pelster: Ja, vor allem deswegen, weil die tieferen Ursachen wie gesagt in der sozialen Ungerechtigkeit liegen. Da müsste angesetzt werden. Wenn die sozialen Probleme gelöst würden, denke ich, dass dann auch die Gewalt abgebaut werden könnte. Denn das sind oft jungen Männer, die sich aus purer Verzweiflung einer Sekte wie Boko Haram anschließen, weil die ihnen eine bessere Zukunft versprechen. Boko Haram träumt von einer besseren Welt und will diese Welt aber mit Gewalt herbeizwingen, mit Terrorakten herbeibomben. Aber das kann natürlich nicht gelingen, wie wir alle wissen.

Das Interview führte Stefan Quilitz.



Hintergrund

Bei einem Anschlag auf einen Polizeikonvoi in der nordnigerianischen Stadt Jalingo sind am Montag mindestens fünf Menschen getötet worden. Der Täter fuhr nach Polizeiangaben in einen Konvoi von Polizisten auf Motorrädern und zündete eine Bombe. Am Sonntagabend hatten Unbekannte in der Stadt Maiduguri drei protestantische Christen nach dem Gottesdienst erschossen, darunter einen Pastor, wie nigerianische Zeitungen berichteten. In einer Kirche der kenianischen Hauptstadt Nairobi starb am Sonntag ein Mensch, als ein Täter eine Handgranate zündete.



Der Vatikan verurteilte die "schrecklichen und verabscheuungswürdigen Taten". Vatikansprecher Federico Lombardi bekundete die Solidarität der katholischen Kirche mit den Opfern und ihren Gemeinschaften. Die Gewalt treffe die Gemeinden in dem Moment, "da sie friedlich ihren Glauben feiern, der Liebe und Frieden für alle verkündet".



Für die neuen Anschläge in Nigeria werden die Täter in den Reihen der islamistischen Terrorgruppe Boko Haram vermutet. Sie hat Kontakte zum Terrornetzwerk Al-Kaida. Der Gewalt von Boko Haram fielen allein im vergangenen Jahr mindestens 500 Menschen zum Opfer. Auch der Anschlag auf Teilnehmer von Freiluftgottesdiensten am Sonntag in Kano, bei dem mindestens 17 Menschen starben, geht vermutlich auf das Konto der Gruppe.



Zwischen Boko Haram und dem in Pakistan getöteten Al-Kaida-Führer Osama bin Laden gab es offenbar enge Kontakte, wie die britische Tageszeitung "The Guardian" am Sonntag berichtete. Das hätten Dokumente ergeben, die in Bin Ladens Haus in Pakistan gefunden worden seien. Bin Laden war am 2. Mai vor einem Jahr von US-Militärs erschossen worden.



Vatikansprecher Lombardi appellierte an die Bevölkerung in Nigeria und Kenia, unabhängig von ihrer religiösen Zugehörigkeit dem Teufelskreis eines tödlichen Hasses zu widerstehen. Kardinalstaatssekretär Tarcisio Bertone äußerte sich besorgt über eine "wachsende Intoleranz" gegen Christen.