Katholische Sozialstelle bewertet Hartz-IV-Einigung als Kompromiss

"Vom ideologischen Ross gestiegen"

Als "typischen Kompromiss" bezeichnet der Leiter der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle den Hartz-IV-Beschluss. Die Parteien seien endlich von ihrem "ideologischen Ross" gestiegen, sagte Prof. Thomas Schallenberg im Interview mit domradio.de. Dennoch begrüßt der Theologe die Einigung.

 (DR)

Insgesamt sei er "sehr zufrieden", kommentierte Schallenberg am Montag (21.02.2011) das Ergebnis der achtwöchigen Verhandlungen von Regierung und Opposition. Die Parteien hatten in der Nacht zum Montag beschlossen, dass der Regelsatz wie geplant um fünf Euro und erst ab 2012 noch einmal um drei Euro steigt.



Obwohl politisch ein Kompromiss, sei diese eine "inhaltlich substanzielle und nachhaltige Einigung", so der Sozialwissenschaftler. Schallenberg mahnte die Parteien an, "in Zukunft nicht immer nur auf Zuruf der Gerichte und von außen zu reagieren". Es gehe darum im Blick behalten, "dass mit Geld alleine das Problem nicht gelöst ist" und "dass wir es verstärkt mit Bevölkerungsschichten zu tun haben, die im normalen Arbeitsmarkt nicht vermittelbar sind". Als Beispiel nannte er Alleinerziehende.



Weiterhin Bedenken

Trotz der Einigung äußerten Vertreter der SPD weiter Bedenken, ob die Regelsätze von der Regierung gemäß den Vorgaben des Verfassungsgerichts berechnet wurden. Für das Risiko, dass die Berechnung erneut beanstandet wird, trage jedoch die Bundesregierung die Verantwortung. Die juristischen Bedenken hatten die Grünen aus den Verhandlungen aussteigen lassen.



SPD-Verhandlungsführerin Manuela Schwesig räumte im "Morgenmagazin" des ZDF ein, dass es noch andere Korrekturen hätten geben müssen. "Unsere Bedenken bleiben bestehen", betonte die Sozialministerin von Mecklenburg-Vorpommern und stellvertretende SPD-Bundesvorsitzende. SPD-Chef Sigmar Gabriel sagte im Deutschlandfunk: "Ich bin ziemlich sicher, dass wir wieder einer Klage bekommen werden." Für dieses Risiko sei jedoch die Bundesregierung verantwortlich. "Wir wollten diese Geschichte nicht noch endlos hinziehen", sagte Gabriel.



Grüne in der Kritik

Das Verhandlungsergebnis sieht vor, die Leistungen die erwachsenen Hartz-IV-Bezieher rückwirkend zum 1. Januar dieses Jahres um fünf auf 364 Euro anzuheben, zum 1. Januar 2012 um weitere drei Euro. Hinzu kommt im nächsten Jahr die Anpassung der Leistungen an die Preis- und Lohnentwicklung. Damit wurde von der Spitzenrunde der Vorschlag der Ministerpräsidenten Seehofer, Wolfgang Böhmer (CDU) und Kurt Beck (SPD), den Regelsatz um acht statt fünf Euro zu erhöhen, in abgeänderter Form angenommen.



Das Bildungspaket mit Zuschüssen zu Vereinsbeiträgen, Schul-Mittagessen und Nachhilfe für rund 2,5 Millionen bedürftige Kinder und Jugendliche wird drei Jahre lang um je 400 Millionen Euro aufgestockt. Von dem Geld sollen die Kommunen die Einstellung neuer Schul- und Jugendsozialarbeiter sowie das Mittagessen in der Hortbetreuung bezahlen. Die Kosten für die Bildungsleistungen, die nach Angaben der Regierung mit 1,2 Milliarden Euro veranschlagt werden, sollen Städte und Gemeinden vollständig erstattet bekommen.



Beim Thema Mindestlöhne verständigte sich die Runde auf eine Lohnuntergrenze in der Zeitarbeit im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, die nicht unterschritten werden kann, auch dann nicht, wenn die entleihenden Betriebe geringere Löhne zahlen als die Leiharbeitsfirmen. Zwei weitere Mindestlöhne soll es im Wachgewerbe und in der Weiterbildungsbranche über das Arbeitnehmerentsendegesetz geben.



Caritas kritisiert Regelsätze als "politisches Kalkül"

Der Deutsche Caritasverband hat die Entscheidung zu den neuen Hartz IV-Regelsätzen als "politisches Taktieren" kritisiert.  Caritas-Präsident Peter Neher mahnte an, dass Ausgaben von verdeckt Armen immer noch in die durchschnittlichen Berechnungen mit einflössen. Dies führe im Ergebnis dazu, dass der Regelsatz zu niedrig ausfalle. Positiv wertete der Deutschen Caritasverband, dass der Bund den Ausbau der Schulsozialarbeit fördern wolle. Kommunen und Länder seien nun aufgefordert, mit dieser "Anschubfinanzierung Strukturen aufzubauen, die eine verlässliche Förderung von benachteiligten Kindern und Jugendlichen garantieren".



Als "sachgerecht" wertete die Caritas die schrittweise Entlastung der Kommunen im Bereich der Grundsicherung im Alter durch den Bund. Das wachsende Risiko der Altersarmut könnten die Kommunen künftig nicht allein schultern. Die Finanzierung seitens des Bundes darf aus Sicht der Caritas allerdings nicht zu Lasten der Hilfen für Langzeitarbeitslose gehen.



Sozialverbände und Gewerkschaften lehnen Kompromiss ab

Der Paritätische Wohlfahrtsverband sprach von der "erbärmlichsten Farce" in der deutschen Sozialpolitik. Die Regelsätze seien weder bedarfsgerecht noch verfassungskonform. Auch die Diakonie rügte den Beschluss von Regierung und Opposition. "Endlich wissen die Leistungsberechtigten, woran sie sind. Allerdings liegen die fünf Euro mehr rückwirkend ab 1. Januar weit unter dem Betrag, den die Diakonie gefordert hatte, und die rechtlichen Unsicherheiten bei der Regelsatzermittlung bleiben bestehen", sagte Diakonie-Präsident Johannes Stockmeier. Auch die anderen Forderungen der Diakonie seien unberücksichtigt geblieben."Hartz-IV-Empfängern drohen weiterhin eine Pauschalierung bei den Unterkunftskosten sowie verschärfte Sanktionsregelungen", betonte Stockmeier. Das Bildungspaket für Kinder bleibe weit hinter dem zurück, was notwendig sei, um Kindern und Jugendlichen mehr Teilhabe an Bildung zu ermöglichen.



Der Paritätische Wohlfahrtsverband forderte die SPD auf, das Vermittlungsergebnis nach Zustimmung des Bundesrates durch eine Normenkontrollklage vor dem Bundesverfassungsgericht überprüfen zu lassen. "Das Geschacher um drei Euro mehr oder weniger ist die erbärmlichste Farce, die die deutsche Sozialpolitik je erlebt hat", kritisierte Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Wohlfahrtsverbandes. Die Fortschritte beim Bildungspaket könnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Politik die rund 4,7 Millionen erwachsenen Hartz IV-Bezieher im Regen stehen lasse. Das Ergebnis sei ein Affront gegenüber dem Bundesverfassungsgericht, sagte Schneider.



Auch die Nationale Armutskonferenz lehnte die Beschlüsse ab. "Ich habe erhebliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit und der zuletzt unter rein taktischen Gesichtspunkten zustande gekommenen Höhe der Regelsätze", sagte Thomas Beyer, Sprecher der Armutskonferenz. Nach diesem Minimalkompromiss bleibe ein bitterer Beigeschmack: "Millionen Betroffene müssen sich als Spielball der Politik empfinden", sagte Beyer. Die Gewerkschaft ver.di nannte die vereinbarten Regelungen völlig unzureichend.



Beschluss am Dienstag

Die Einigung über die Hartz-IV-Reform soll nun am Dienstag im Vermittlungsausschuss beschlossen werden. Anschließend müssen Bundestag und Bundesrat dem Vermittlungsergebnis zustimmen, das gilt als Formsache. Nach den Worten von Beck wird dafür eine Sondersitzung des Bundesrats am Freitag angestrebt. Für die Hartz-IV-Reform braucht die Bundesregierung die Zustimmung des Bundesrats, in dem sie über keine eigene Mehrheit verfügt.



Das Bundesverfassungsgericht hatte im Februar 2010 die Hartz-IV-Leistungen als in Teilen nicht verfassungskonform verworfen und dem Gesetzgeber eine Neuregelung auferlegt. Sie sollte seit Beginn dieses Jahres gelten.