Ausstellung zu Leben und Werk von Nelly Sachs

"Ich will hinter meinem Werk verschwinden"

Nelly Sachs war die erste deutschsprachige Literatur-Nobelpreisträgerin - nun würdigt eine neue Wanderausstellung das Leben und Schaffen der jüdischen Lyrikerin. Anlässlich ihres 40. Todestages zeigt das Jüdische Museum Berlin Schriftstücke, Bücher und persönliche Gegenstände von Nelly Sachs.

 (DR)



"Der rote Faden, der sich durch Nelly Sachs' gesamtes Werk zieht, ist die Erfahrung der Trennung, sei diese geografischer oder physischer Natur." So bringt Aris Fioretos, Kurator der Wanderausstellung "Flucht und Verwandlung", die nun im Jüdischen Museum Berlin zu sehen ist, seine Sicht auf die aus Berlin stammende Schriftstellerin auf den Punkt.

Mit der Ausstellung über die jüdische Dichterin hat Fioretos eine Herausforderung angenommen, denn wie kaum ein anderer Schriftsteller verstand es die Nobelpreisträgerin, die Rezension in ihrem Sinne zu steuern. Daher gibt Nelly Sachs, die zu den bedeutendsten deutschsprachigen Autoren der Nachkriegszeit zählt, der Literaturwissenschaft noch immer Rätsel auf. Sie selbst wünschte, anonym zu bleiben. So schrieb sie 1959 dem Germanisten Walter A. Berendsohn, sie wolle, dass man sie «gänzlich ausschalte": «Ich will hinter meinem Werk verschwinden.»

Rund 300 Objekte und Dokumente aus Deutschland und dem schwedischen Exil, darunter bisher unveröffentlichtes Material aus ihrem Nachlass, illustrieren das dichterische Werk und stellen Bezüge zur Biografie und dem historischen Kontext her.

Das erste Modul der Ausstellung widmet sich der Kindheit und Jugend der Dichterin. Bereits hier, so Fioretos, sei «die ganze DNA des Werkes angelegt». Sachs, die 1891 in Berlin als einzige Tochter assimilierter Juden geboren wurde, wuchs in einem wohlhabenden Umfeld auf. Zwar empfindet das scheue Mädchen Gleichaltrigen gegenüber ihr Anderssein, lebt dafür in einer Welt der Bücher und genießt ihr «Paradiesgärtlein», in dem sogar ein Reh lebte. Mit der Mutter verbindet sie eine außergewöhnlich symbiotische Beziehung. In dieser Zeit entstehen erste Gedichte im romantischen Stil.

Einen Riss erhält das Paradies, als sich Sachs als Teenager unglücklich verliebt und daraufhin die Nahrungsaufnahme verweigert. Im Grunewald wird sie von dem Arzt Richard Cassirer psychologisch betreut, der die Dichterin in ihr erkennt und sie zum weiteren Schreiben ermuntert. Das einführende Ausstellungs-Modul verweist auf eine der ungelösten Fragen in der Biografie der Nelly Sachs: Wer war der unbekannte Geliebte, dem sie ein Leben lang die Treue hält? Namentlich bekannt ist er bis heute nicht, vermutlich war es ein geschiedener Mann.

Erst 1939 und buchstäblich in letzter Minute flieht sie vor dem Naziregime, nicht zuletzt durch die Fürsprache der schwedischen Schriftstellerin Selma Lagerlöf - ein Einweisungsbescheid ins Arbeitslager liegt bereits vor. Im Stockholmer Exil kommt es zur «literarischen Neugeburt». Mit der fremden Sprache entwickelt sich ein neuer Ausdruck. «Es ist unglaublich», so Fioretos, «Sie ist 50 und wird immer besser.» Die romantischen Gedichte über Rehe und Blümchen werden abgelöst durch eine eigene poetische Sprache, in der Sachs sich vor allem mit dem Holocaust auseinandersetzt.

Ihre Gedichte entstehen in einem vier Quadratmeter großen Raum mit Blick auf das Wasser - ihrer «Kajüte». Die nachempfundene Kajüte bildet daher auch das Herz der Ausstellung. In der Auseinandersetzung mit dem Chassidismus entdeckt Sachs hier ihren persönlichen «Urpunkt». Die kommenden Jahre sind geprägt von zunehmendem Erfolg und gleichzeitig immer stärker werdendem Verfolgungswahn. Sachs glaubt Opfer einer nationalsozialistischen Verschwörung zu sein. Am sichersten fühlt sie sich in der Psychiatrie, wo einige ihrer stärksten Gedichte entstehen. 1970 stirbt Nelly Sachs in Stockholm.

Um sich der Persönlichkeit der labilen Dichterin anzunähern, geht Fioretos in der Ausstellung sensibel und subtil vor, verzichtet auf eine laute Gegenposition zur bisherigen Forschung. «Man könnte härter dagegen halten. Aber was würde man gewinnen?»

Hinweis: Die Ausstellung ist bis zum 27. Juni täglich von 10 bis 20 Uhr und montags bis 22 Uhr geöffnet. Der von Aris Fioretos herausgegebene Katalog «Flucht und Verwandlung - Nelly Sachs, Schriftstellerin, Berlin/Stockholm» ist im Suhrkamp Verlag erschienen und kostet 29,90 Euro.