EU-Reformvertrag unterzeichnet - Grundrechtecharta soll rechtsverbindlich werden - mit Ausnahmen

Gleiche Rechte für fast alle

Der neue Reformvertrag für die Europäische Union ist am Donnerstag in der portugiesischen Hauptstadt Lissabon feierlich unterzeichnet worden. Zu der Zeremonie kamen die EU-Staats- und Regierungschefs sowie die EU-Außenminister im Lissaboner Hieronymus-Kloster zusammen. In den Reformvertrag wurden wesentliche Elemente der gescheiterten
europäischen Verfassung übernommen. Erst nachdem alle 27 EU-Mitgliedsstaaten den Vertrag ratifiziert haben, können die
Reformen in Kraft treten.

Autor/in:
Christoph Lennert
 (DR)

Das Abkommen tritt an die Stelle der EU-Verfassung, die in Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden gescheitert war. Es soll dafür sorgen, dass die Europäische Union auch mit 27 oder mehr Mitgliedern funktions- und entscheidungsfähig ist. Auf die wesentlichen Inhalte des Vertrags hatten sich die EU-Regierungen im Juni unter der deutschen EU-Ratspräsidentschaft geeinigt. Für die Bundesregierung unterzeichneten Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) den Vertrag.

Unter anderem sollen Blockademöglichkeiten im Ministerrat abgeschafft werden. EU-Kommission und -Parlament werden verkleinert. Die Grundrechtecharta erhält erstmals Rechtsverbindlichkeit (s.u.) Ein Ratspräsident und ein Außenbeauftragter sollen der EU ein Gesicht geben. Daneben werden auch die Mitspracherechte des EU-Parlaments und der nationalen Volksvertretungen gestärkt.

EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso sagte, eine sechs Jahre währende Debatte sei nun beendet. Der neue EU-Reformvertrag werde die Handlungsfähigkeit der Union stärken. Bundeskanzlerin Merkel habe dazu einen "außerordentlichen" Beitrag geleistet, betonte er. Als besondere Herausforderungen nannte Barroso die Globalisierung und den Klimawandel.
Noch Anfang des Jahres sei die Krise der EU als unüberwindlich bezeichnet worden, erklärte der Präsident des EU-Parlaments, Hans-Gert Pöttering (CDU). Nun gehe die EU gestärkt aus dieser Krise hervor.

Der Vertrag muss nun schnellstmöglich ratifiziert werden, damit er zur Europawahl 2009 in Kraft treten kann. Merkel hat an Bundestag und Bundesrat appelliert, diesen Prozess bis Mitte Mai 2008 abzuschließen. Eine Volksabstimmung über den "Vertrag von Lissabon" ist bisher nur in Irland geplant.
Grundrechte-Charta
In einer feierlichen Zeremonie hatten die Präsidenten von EU-Kommission, -Rat und -Parlament am Mittwoch in Straßburg die EU-Grundrechtecharta verkündet. Das Dokument soll den Bürgern verdeutlichen, welche Rechte sie gegenüber den europäischen Institutionen und Behörden haben. Die Sitzung in Straßburg wurde mehrfach durch den lautstarken Protest einiger europakritischer EU-Parlamentarier aus Großbritannien und Polen unterbrochen.

Schon einmal unterzeichneten die Vertreter der EU-Institutionen die EU-Grundrechtecharta: Im Dezember 2000 in Nizza setzten Frankreichs Außenminister Hubert Vedrine als Vertreter der damaligen EU-Präsidentschaft, Europaparlaments-Präsidentin Nicole Fontaine und EU-Kommissionspräsident Romano Prodi ihre Namenszüge unter das Dokument. Am Mittwoch in Straßburg wiederholte sich die Szene in anderer Besetzung: Diesmal griffen Portugals Ministerpräsident Jose Socrates, Europaparlaments-Präsident Hans-Gert Pöttering und Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso zum Füllfederhalter. Und wieder beschworen sie, die Grundrechtecharta gebe den Bürgern mehr Rechtssicherheit und der EU ein Fundament ihres Handelns. Sie sei der modernste und umfassendste Grundrechtskatalog überhaupt.

Zweierlei ist neu. Vor sieben Jahren war noch offen, welchen rechtlichen Wert die Charta einmal erhalten sollte. Vor allem Großbritannien verhinderte ihre Rechtsverbindlichkeit.

Insbesondere bei den sozialen Rechten hatten die Briten Bedenken - etwa bei der wöchentlichen Höchstarbeitszeit. Jetzt ist klar: Die Charta soll rechtlich verbindlich und einklagbar werden. Im EU-Vertrag, der am Donnerstag in Lissabon unterschrieben wird, ist das geregelt. Allerdings haben sich zwei Länder Ausnahmen gesichert: Weder in Großbritannien noch in Polen wird die Charta einklagbares Recht.

Neu ist zweitens auch: Die Charta unterscheidet sich von der, die im Jahr 2000 unterschrieben wurde. Besonders auf britisches Bestreben fügten die Staats- und Regierungschefs noch erklärende Formulierungen über den Anwendungs- und Geltungsbereich ein. "Das ist, als ob man Hosenträger, Gürtel und Gummizug zum Halten der Hose benutzt", bewertet der SPD-Europaabgeordnete Klaus Hänsch sarkastisch das britische Beharren auf unmissverständliche Klarheit bei der Auslegung. Nach Einschätzung seines Fraktionskollegen Jo Leinen ist dieses Insistieren den innenpolitischen Problemen Großbritanniens und dort verbreiteter Euro-Skepsis geschuldet. Denn über die Konsequenzen des Ausstiegs werden erst künftige Gerichtsentscheidungen Klarheit bringen.

Dass die EU-Grundrechtecharta rechtsverbindlich werden soll, stößt auch bei der Kirche in den EU-Staaten größtenteils auf Zustimmung. Der Trierer Bischof Reinhard Marx, künftiger Erzbischof von München und in der Deutschen Bischofskonferenz für Europafragen zuständig, lobte die Rechtsverbindlichkeit ausdrücklich. Er verwies zudem auf den allerersten Satz der Charta: "Die Würde des Menschen ist unantastbar". Damit werde eine "zutiefst christliche Sicht" zum Ausdruck gebracht.

Kritik gibt es aber auch: So bemängelte die Polnische Bischofskonferenz etwa die Ungenauigkeit der Charta beim Thema Familie oder beim Embryonenschutz, wo nur das Klonen zu Fortpflanzungszwecken verboten wird. Schon 2000, als die Charta erstmals proklamiert wurde, hatte der damalige Papst Johannes Paul II. die gleichen Bedenken vorgebracht.

Bevor die Charta Rechtskraft hat, müssen freilich erst einmal alle 27 EU-Staaten den "Vertrag von Lissabon" ratifizieren. Abgeordnete der europäischen Linksparteien und der extremen Rechten im Europaparlament störten die Unterschriften-Zeremonie im Europaparlament, um lautstark und mit Transparenten eine Volksabstimmung über den künftigen EU-Vertrag zu fordern - bislang ist das nur in Irland geplant.

Ratifizierung bleibt schwierig
Die Bereitschaft, sich den neuen gemeinsamen "Spielregeln" zu unterwerfen, was gleichzeitig die teilweise Abgabe der eigenen Souveränität bedeute, sei in den einzelnen beteiligten Ländern aber unterschiedlich ausgeprägt. Besonders jenen, die gerade erst ein Stück ihrer Souveränität zurück erhalten hätten, falle das schwer, erklärt Jan Techau, Leiter des Europaprogramms der Deutschen Gesellschaft für auswärtige Politik in Berlin im domradio-Interview. In jedem Einzelnen dieser Länder müsse ein neuer Handel gemacht werden. "Das heißt eine Ratifizierung bleibt schwierig", so Techau. Ob diese gelingt - das sei jetzt die eigentlich spannende Frage.

Nach dem Scheitern der EU-Verfassung bei Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden ist die Lust auf Referenden bei den Regierenden in der EU nicht groß. Sollte die Ratifikation des EU-Vertrags scheitern, stünde Europa in seiner tiefsten Krise. Und dann müsste am Ende die Charta gar noch ein drittes Mal proklamiert werden.