Gemischte Reaktionen auf EU-Reformvertrag

"Der große Wurf ist das nicht"

Die Reaktionen auf die Einigung der EU-Staats- und Regierungschefs fallen überwiegend positiv aus. Repräsentanten der Katholischen und Evangelischen Kirche begrüßten den Reformvertrag. Im domradio-Interview spricht Dominik Hierlemann von der Bertelsmann Stiftung von einem Erfolg, sagt aber auch: "Der große Wurf ist das nicht."

 (DR)

EU-Bischofskommission: Europäer können über Einigung froh sein
Der Generalsekretär der EU-Bischofskommission COMECE, Noel Treanor, sagte der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA), es sei gut, dass der Kompromiss im angestrebten Zeitplan gefunden wurde und damit eine schwierige Verhandlungsperiode ein Ende finde. Im domradio bemerkte der stellvertretende Generalsekretär der COMECE, Stefan Lunte: "Was bleibt, ist die Frage der Ratifizierung - damit hat die Europäische Union in der Vergangenheit ja auch Erfahrung gemacht."

Es sei gelungen, die EU-Institutionen einer Gemeinschaft von 27 Staaten anzupassen und damit die Grundlagen dafür zu schaffen, dass die EU auch auf der Weltbühne ihrem Gewicht entsprechend auftrete, so der COMECE-Generalsekretär.

Ausdrücklich würdigte Treanor, dass der neue Vertrag einen regelmäßigen Dialog der EU-Institutionen mit den Kirchen und Religionsgemeinschaften vorsehe. Damit werde zum einen die Bedeutung der Religion in der Gesellschaft anerkannt und zum anderen eine Grundlage geschaffen, um "das enorme Potenzial" religiös verankerter Menschen zur "Quelle für Inspiration und Handeln" der EU zu machen. Dieses Potenzial sei angesichts der komplexen Herausforderungen der Politik in der Gegenwart von herausragender Bedeutung.

Auch EKD lobt Kompromiss
Auch Vertreter der Evangelischen Kirche in Deutschland lobten den Kompromiss. Die Leiterin des EKD-Büros in Brüssel, Sabine von Zanthier, sagte auf Anfrage, damit sei eine sechs Jahre dauernde Periode von Verhandlungen über die Zukunft Europas zu einem Ende gekommen. Es habe sich gezeigt, dass insgesamt ein Wille zu Kompromissen vorhanden sei. Das sei für die Zukunft ein wichtiges Zeichen. Seit dem EU-Gipfel vom Juni seien die Verhandlungen in einem pragmatischen Stil geführt worden, der niemanden ausschließe.

Sehr zufrieden zeigte sich von Zanthier mit der Aufnahme eines regelmäßigen Dialogs mit den Kirchen und Religionsgemeinschaften in den neuen EU-Vertrag. Sie würdigte auch, dass die EU-Grundrechtecharta mit Ausnahme von Polen und Großbritannien in der EU rechtsverbindlich werden soll. Das sei entscheidender als die Frage, ob die Charta im Wortlaut in den Vertrag komme. Das war in der gescheiterten EU-Verfassung vorgesehen; im neuen EU-Vertrag wurde darauf verzichtet.

Unterzeichnung am 13. Dezember
Die EU wird zur Europawahl 2009 auf eine neue vertragliche Grundlage gestellt. In der Nacht zum Freitag einigte sich der EU-Gipfel in Lissabon auf den neuen Reformvertrag, der an die Stelle der gescheiterten EU-Verfassung treten soll.

Bundskanzlerin Angela Merkel sprach nach den rund siebenstündigen Abschlussverhandlungen von einem "großen politischen Erfolg". Eine sechsjährige Vertragsdebatte sei zu einem guten Abschluss gebracht worden. Der Reformvertrag soll am 13. Dezember in Lissabon feierlich unterzeichnet werden.

Der portugiesische Regierungschef und EU-Ratspräsident Jose Socrates hatte zur Eröffnung des Gipfeltreffens eindringlich an die Staats- und Regierungschefs appelliert, die "historische" Chance zu nutzen. Mit der nun in der Nacht erreichten "politischen Einigung" wird zugleich dem Wunsch Portugals nachgekommen, den Reformvertrag durch die geplante Unterzeichnung in der portugiesischen Hauptstadt als "Vertrag von Lissabon" in die Geschichte der Europäischen Union eingehen zu lassen.

Der Reformvertrag, der nach der Unterzeichnung in allen Mitgliedsstaaten noch ratifiziert werden muss, übernimmt wesentliche Elemente des alten Verfassungsentwurfs. Dazu gehören neben einem auf zweieinhalb Jahren gewählten EU-Präsidenten auch ein Hoher Beauftragter für die Außenpolitik der Europäischen Union. Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) betonte, Europa werde so künftig "mit einer Stimme sprechen".

"Der tut auf Dauer nicht gut daran, zu zickig zu sein"
Zudem werden die Rechte der nationalen Parlamente und des Europaparlaments gestärkt. Bis zuletzt strittig war, inwieweit bei der geplanten Verkleinerung der Parlaments auf 750 Sitze der Forderung Italiens nach einem zusätzlichen Sitz nachgekommen werden kann. Italiens Premier Romano Prodi hatte eine Gleichberechtigung mit Großbritannien sowie Frankreich angemahnt, die bisher alle 78 Sitze im Parlament haben. Dem ersten Vertragsentwurf zufolge sollte Frankreich künftig 74, Großbritannien 73 und Italien nur noch 72 Abgeordnete nach Brüssel entsenden können.

Nach Angaben Merkels ist beim EU-Gipfel vereinbart worden, dass Italien einen Parlamentssitz mehr erhält. Um die für das Europaparlament festgelegte Obergrenze von 750 Abgeordneten dennoch einzuhalten, wird ab 2009 der amtierende Parlamentspräsident, der kein Stimmrecht hat, aus der Zählung herausfallen.

Auch für die Forderung Polens nach einer vertraglichen Regelung zur Aufschiebung von Mehrheitsentscheidungen wurde eine Lösung gefunden. Nunmehr soll die so genannte Joanina-Klausel mit einem Protokoll und einer Erklärung geregelt werden, die es gestatten, diese Klausel nicht erst durch eine Regierungskonferenz aller EU-Mitgliedsstaaten aufzuheben. Luxemburgs Regierungschef Jean-Claude Juncker hatte Warschau gemahnt, wer am europäischen Tisch sitzen wolle, "der tut auf Dauer nicht gut daran, zu zickig zu sein".

"Jetzt wird Europa sehr viel besser funktionieren"
Nach der "politischen Einigung" des EU-Gipfels wird der Vertrag in den kommenden Wochen in die jeweiligen Sprachen der EU-Mitglieder übersetzt und juristisch abgestimmt. Nach der Unterzeichnung am 13. Dezember beginnt das Ratifizierungsverfahren, für das es nach den Worten der Kanzlerin eine "sehr viel größere Sicherheit" gibt als beim EU-Vertrag. Damit könnte der Reformvertrag wie geplant 2009 in Kraft treten.

Außenminister Steinmeier betonte, die geduldige Arbeit der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr für ein detailreiches Mandat zur Vertragsüberarbeitung habe sich ausgezahlt. Nach der "tiefsten europäischen Depression", die mit der Ablehnung der EU-Verfassung in Frankreich und den Niederlanden eingetreten war, werde nunmehr das erweiterte Europa eine neue vertragliche Grundlage erhalten. Merkel fügte hinzu: "Jetzt wird Europa sehr viel besser funktionieren."

Verbände beklagen fehlenden Familienbezug
Der EU-Vertrag berücksichtigt nach Ansicht der Föderation der katholischen Familienverbände in Europa (FAFCE) zu wenig die Interessen der Familien. Es sei bedauerlich, dass die Unterstützung des Familienlebens nicht als Ziel in das neue EU-Vertragswerk aufgenommen werde, sagte FARCE-Präsidentin Elisabeth Bußmann am Donnerstag in Berlin. Angeschriebene Staats- und Regierungschefs hätten unter Verweis auf ein mögliches Scheitern der Verhandlungen das Anliegen nicht weiter unterstützt.

Der Verband warnte die Europäische Union davor, zur Bewältigung des demografischen Wandels allein auf Modelle einer lebenslangen ununterbrochen Vollzeitbeschäftigung von Männern und Frauen zu setzen. Dies sei kurzfristig gedacht und entspreche nicht dem Wunsch der meisten Paare und Eltern. Statt dessen sei eine Verlässlichkeit in der Familienpolitik nötig, damit Familien sich um Kinder oder zu pflegende Angehörige kümmern könnten.

Die Föderation der katholischen Familienverbände vertritt die Anliegen von 16 katholischen Familienverbänden aus 14 Mitgliedstaaten der EU. Aus Deutschland ist der Familienbund der Katholiken (FDK) Mitglied der Organisation.

Bundesrat bekräftigt Forderung nach Gottesbezug
Vor dem Gipfel hatte der Bundesrat erneut einen Gottesbezug im EU-Verfassungsvertrag gefordert. Die Länderkammer stimmte am Freitag in Berlin einem kurzfristig von Bayern und anderen Bundesländern eingebrachten Antrag mehrheitlich zu. Darin drückt sie ihr Bedauern darüber aus, dass die Aufnahme eines Gottesbezugs auch in den Verhandlungen der derzeitigen Regierungskonferenz zur EU-Vertragsreform "nicht mit Aussicht auf Erfolg eingebracht werden kann".

Mehrere Redner betonten, das Thema solle auf der Tagesordnung der europäischen Politik bleiben. So mahnte der nordrhein-westfälische Europaminister Michael Breuer (CDU), eine solche Aufnahme grundlegender Traditionen würde den Bürgern die Identifikation mit der EU erleichtern. Der Antrag kam von Bayern, Baden-Württemberg, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, dem Saarland und Thüringen. Bereits vor der Regierungskonferenz 2004 zum Europäischen Verfassungsvertrag hatte sich die Länderkammer für die Aufnahme eines Gottesbezugs ausgesprochen.