Misereor-Bischof Thissen zum Ernährungsgipfel in Rom

"Auf den Skandal des Hungers hinweisen"

Zehn Jahre nach dem Welternährungsgipfel in Rom zieht die UN-Ernährungsorganisation FAO am Montag in der italienischen Hauptstadt eine Bilanz. Entwicklungsorganisationen halten die Bemühungen im Kampf gegen Armut und Hunger für nicht ausreichend.In einem Interview mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) äußerte sich der Beauftragte der Deutschen Bischofskonferenz für das katholische Hilfswerk Misereor, der Hamburger Erzbischof Werner Thissen, am Freitag zu Fortschritten und Rückschlägen bei der Hungerbekämpfung.KNA: Herr Erzbischof, was erwarten Sie von dem Treffen am Montag?Thissen: Die FAO wird zugeben müssen, dass die Weltgemeinschaft keine Erfolge in der Umsetzung des ersten Millenniumziels, den Hunger bis 2015 zu halbieren, vorweisen kann.

 (DR)

Zehn Jahre nach dem Welternährungsgipfel in Rom zieht die UN-Ernährungsorganisation FAO am Montag in der italienischen Hauptstadt eine Bilanz. Entwicklungsorganisationen halten die Bemühungen im Kampf gegen Armut und Hunger für nicht ausreichend.

In einem Interview mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) äußerte sich der Beauftragte der Deutschen Bischofskonferenz für das katholische Hilfswerk Misereor, der Hamburger Erzbischof Werner Thissen, am Freitag zu Fortschritten und Rückschlägen bei der Hungerbekämpfung.

KNA: Herr Erzbischof, was erwarten Sie von dem Treffen am Montag?

Thissen: Die FAO wird zugeben müssen, dass die Weltgemeinschaft keine Erfolge in der Umsetzung des ersten Millenniumziels, den Hunger bis 2015 zu halbieren, vorweisen kann. Nach einem ersten Absinken der absoluten Zahl der Hungernden und ihres Anteils an der Weltbevölkerung nimmt Armut heute wieder zu. Ich erwarte, dass den Vereinbarungen innerhalb der Weltgemeinschaft auch konkrete Taten und spürbare Erfolge im Kampf gegen Hunger und Armut folgen. Der Kampf gegen Hunger und Armut muss im Fokus der Berichterstattung stehen. Der Ernährungsgipfel in Rom bietet die Chance, die Öffentlichkeit auf den Skandal des Hungers hinzuweisen.

KNA: Welche Fortschritte wurden im Kampf gegen Hunger und Armut erzielt?

Thissen: Es gibt in einzelnen Ländern Fortschritte, zum Beispiel in China und Vietnam, wo mit dem Wirtschaftswachstum auch eine Verbesserung der Ernährungslage eingesetzt hat, vor allem aber, weil Regierungsprogramme die landwirtschaftliche Bevölkerung stärker unterstützt haben. Das gilt weitgehend auch für Südamerika und die Karibik, wo die Zahl der Hungernden tatsächlich abgenommen hat. Aber es gibt nach wie vor große Probleme. Zum Beispiel führt die erhebliche Ungleichheit im Zugang zu Ressourcen in Lateinamerika dazu, dass städtische Arme sowie Landlose und Kleinbauernfamilien in ländlichen Regionen von großer Ernährungsunsicherheit betroffen bleiben. Sie bilden das Heer der Hungernden. Solange ihr Zugang zu Ressourcen nicht verbessert wird und sie in ihren Rechte beschnitten werden, ist kein Erfolg in der Hungerbekämpfung zu erzielen. Im Gegenteil, die Kluft zwischen armen und reichen Menschen wächst wieder, obwohl es weltweit gültige Abmachungen und Ziele zur Bekämpfung der Armut und des Hungers gibt.

KNA: In welchen Bereichen muss man am stärksten weiter arbeiten?

Thissen: Die Formulierung der freiwilligen Richtlinien zur Umsetzung des Rechts auf Nahrung ist wohl der größte Erfolg der FAO in den vergangenen fünf Jahren. Ich finde es richtig, dass die FAO und mit ihr auch die Gebergemeinschaft nun Investitionen in die Landwirtschaft und in ländliche Räume wieder in den Vordergrund stellt. Es hat sich gezeigt, dass eine nachhaltige Entwicklung allein durch den Aufbau von Industrien nicht erfolgreich ist. Sie führt zu größeren Ungleichheiten. Vor allem kleinbäuerliche Landwirtschaft sichert die Eigenversorgung sowie Einkommen im ländlichen Raum. In der Folge kann durch eine Vermarktung der lokalen Produkte auf regionalen Märkten ein Angebot von preiswerten Nahrungsmitteln sicher gestellt werden.
So bleiben Produktion und Gewinn in der Region und es können weitere Einkommensmöglichkeiten entstehen. Das erfordert einen Paradigmenwechsel in der Politik und muss teilweise gegen die Interessen von Großgrundbesitzern und multinationalen Konzernen durchgesetzt werden. Lippenbekenntnisse der FAO und der Staatengemeinschaft reichen dafür nicht aus. Daneben müssen die Armen befähigt werden, ihre Bedürfnisse selbst zu artikulieren und ihre Rechte einzufordern, um sich entscheidend in die Politik einmischen zu können.

KNA: Organisationen wie Misereor kritisieren die "Beschönigungsarithmetik" bei der Zahl der Hungernden weltweit.
Verschleiern die Regierungen das wahre Ausmaß des Problems?

Thissen: Die absolute Zahl der Hungernden steigt wieder an. Das bedeutet ein Versagen der Staatengemeinschaft in der Hungerbekämpfung, das oftmals statistisch schöngeredet wird.
Armut und Hunger sind strukturelle Probleme. Ihre Lösung bedarf eines stärkeren Engagements aller Regierungen weltweit. Dass das erste Millenniums-Entwicklungsziel, extreme Armut und Hunger bis
2015 zu beseitigen, nicht erreicht wird, ist in erster Linie auf mangelnden politischen Willen zurückzuführen. Weltweit wird zwar genug Nahrung produziert, aber nicht überall dort, wo sie das Überleben sichern muss.

KNA: Spielt die Hungerbekämpfung im deutschen Entwicklungshaushalt eine ausreichende Rolle?

Thissen: Eine entsprechende Ausrichtung der Entwicklungszusammenarbeit ist dringend erforderlich.
Gleichzeitig sollte die Bundesregierung, die eine wichtige Rolle in der Erarbeitung der freiwilligen Leitlinien zum Recht auf Nahrung gespielt hat, in dem Bemühen nicht nachlassen, die Umsetzung dieser Empfehlungen voranzutreiben. Ebenso sollte sie im Rahmen der EU eine abgestimmte Politik betreiben, um nicht durch die Handelspolitik das zu zerstören, was durch Entwicklungspolitik aufgebaut wurde.

KNA: Worauf muss sich Entwicklungshilfe aus Sicht von Misereor in den kommenden Jahren konzentrieren?

Thissen: Die großen Themen der Entwicklungszusammenarbeit haben sich nicht geändert - Verteilungsgerechtigkeit, Frieden, Nachhaltigkeit, Solidarität. Konkret muss die Umsetzung des Rechts auf Nahrung und des Rechts auf Wasser vorangetrieben werden. Die Investitionen in ländliche Armutsregionen müssen erhöht und die Welthandelsbedingungen fairer gestaltet werden.
Ebenso müssen wir die beschriebenen Armutsgruppen in den Blick nehmen. Es gilt, ihre Selbsthilfefähigkeit und Selbstorganisation zu fördern. Schließlich weist Misereor stets auch auf unsere Mitverantwortung hin, zum Beispiel im Hinblick auf Energieverbrauch und Klimawandel, auf Billigprodukte, die oft von ausgebeuteten Arbeitern unter ungerechten Bedingungen erstellt werden, auf den erhöhten Konsum von Fleisch aus Tierfabriken, dessen Voraussetzung der Verbrauch von weiten Landflächen, viel Wasser und Energie ist - sehr häufig zu Lasten der Armen. Hier trägt jeder von uns persönlich Verantwortung.