Morgenimpuls mit Schwester Katharina

Der Held des Abends

Der Mann verheddert sich in der Pressekonferenz. Er verliest eine Erklärung und im komplizierten Amtsdeutsch weiß er selber nicht so genau, was er da sagt. Man soll, wie immer damals, Anträge stellen dürfen und Genehmigungen erhalten. Irgendwas mit ständig und immer. Aber ein italienischer Journalist hakt nach und will Näheres wissen. Ab wann diese Regelung gelten soll und ob auch für Berlin? Er wühlt in seinen Zetteln und Unterlagen und stammelt: "Nach meiner Kenntnis sofort, unverzüglich."

Es war ein Versehen, ein Versprecher, ein, in der Bedrängnis der Konferenz nicht richtig gelesener Zettel. Aber welche Auswirkung! Als erstes bringt die britische Nachrichtenagentur Reuters die Nachricht, dann die Tagesschau, dann das heute-journal und die Tagesthemen. Und dann sind sich die Leute sicher und strömen zur Grenze. Zu den hermetisch verschlossenen Grenzübergangsstellen in Berlin und an der Westgrenze. Die Grenzpolizei hat keine Order, keinen Befehl und weiß nicht, was sie machen soll. Und dann, kurz vor Mitternacht, gibt ein hochrangiger Offizier an der Bornholmer Straße dem Druck der Massen nach. Er holt nicht sein Maschinengewehr und gibt keinen Schießbefehl. Er öffnet den Schlagbaum und das Tor und die Menschen fluten das unerreichbare, das eigene, das bisher geteilte Land.

Ein Versprecher gibt das Startsignal und sechs Wochen später ist die alte Diktatur in sich zusammengebrochen und Neues kann entstehen. Für mich, die ich in der DDR groß geworden bin und alles hautnah erlebt habe, ist der Held dieses Abends er: der Offizier in der Bornholmer Straße. Er hat sich nicht hinter seinem erlernten Feindbild, seinen Befehlsstrukturen versteckt, sondern ist seinem Herzen gefolgt oder seiner Vernunft oder seinen seit langem gehegten Zweifeln am System; und hat das Tor geöffnet statt zu schießen.

Sagen wir nicht so leicht, ich als ein Einzelner kann da nichts tun. O doch. Ich kann, immer. Er ist für mich der beste Beweis. Und mir scheint, in diesen Tagen der Kriege in der Ukraine, in Israel und noch weltweit, wird es immer wichtiger, dass wir Einzelnen Flagge zeigen, uns gegen Hetze, Hass und Gewalt einsetzen und uns nicht hinter der Masse verstecken.

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