Zu Besuch in der neuen israelischen Nationalbibliothek

Ein Bau wie ein Gedicht

Sie ist lichtdurchflutet und einladend. Die neue israelische Nationalbibliothek setzt in Architektur und Konzept auf Offenheit. Zäune, die bei vielen öffentlichen Einrichtungen Jerusalems Standard sind, sucht man hier vergebens.

Autor/in:
Andrea Krogmann
Blick in den Lesesaal der Israelischen Nationalbibliothek, nach einem Entwurf des Architekturbüros Herzog und de Meuron / © Andrea Krogmann (KNA)
Blick in den Lesesaal der Israelischen Nationalbibliothek, nach einem Entwurf des Architekturbüros Herzog und de Meuron / © Andrea Krogmann ( KNA )

Gleichermaßen elegant wie imposant und ein bisschen eingequetscht in das Hanggrundstück zwischen zwei Straßen steht sie: die neue israelische Nationalbibliothek in Jerusalem.

Zwischen den Tempeln der Demokratie und der Kunst – der Knesset und dem Israel-Museum – haben die Architekten aus dem renommierten Schweizer Büro Herzog und de Meuron dem geschriebenen Wort ein bemerkenswertes Denkmal gesetzt. Eines der schönsten modernen Gebäude der Stadt zieht seit seiner Eröffnung Ende Oktober die Menschen an – Forscher, Leser, Besucher.

Israelische Nationalbibliothek, nach einem Entwurf des Architekturbüros Herzog und de Meuron / © Andrea Krogmann (KNA)
Israelische Nationalbibliothek, nach einem Entwurf des Architekturbüros Herzog und de Meuron / © Andrea Krogmann ( KNA )

Betriebsame Stille

Es ist ein Haus der Gegensätze. Klare Linien und Spitzen außen, innen alles rund. Trubel und Bewegung rund um das Herzstück, den dreistöckigen Lesesaal mit 200.000 Büchern und Platz für 600 Nutzer. In ihm selbst herrscht, wie man sich eine Bibliothek denkt, betriebsame Stille. 

In der ersten Dauerausstellung in der Geschichte der Bibliothek sind die ältesten Schriftzeugnisse der Sammlung zusehen – antike Schalen mit Beschwörungsformeln, rare Handschriften und früheste Drucke. Demgegenüber steht modernste Technik: Roboter, die wie durch Zauberhand Bücher aus dem gigantischen Archivierungssystem im untersten Geschoss der Bibliothek fischen und an Fließbänder übergeben.

Alles, was mit der Region zu tun hat 

Der größte Gegensatz aber ist vielleicht das Haus selbst: ein Tempel für Bücher und Handschriften in Zeiten der Digitalisierung, fünf unterirdische und sechs oberirdische Stockwerke über eine Fläche von 46.000 Quadratmetern für eine Sammlung aus rund vier Millionen Büchern, dazu historischen Zeitungen, Fotos und tausenden antiken Karten, Manuskripten, Plakaten und Tonaufnahmen. 

Gesammelt wird vor allem, was mit der Region zu tun hat und was von israelischen oder jüdischen Autoren stammt, erläutert Stefan Litt, Kurator der geisteswissenschaftlichen Sammlung. Arabischsprachige Autoren aus Israel sind in den letzten Jahren vermehrt hinzugekommen, so Litt, denen die Institution Nationalbibliothek früher "zu jüdisch" gewesen sei.

Treppe in der Israelischen Nationalbibliothek, nach einem Entwurf des Architekturbüros Herzog und de Meuron / © Andrea Krogmann (KNA)
Treppe in der Israelischen Nationalbibliothek, nach einem Entwurf des Architekturbüros Herzog und de Meuron / © Andrea Krogmann ( KNA )

Bewahrung der Geschichte 

Tatsächlich ist die Bewahrung der Geschichte und des Erbes des jüdischen Volkes ein Grundgedanke, der 1892 zur Gründung der Vorgängerinstitution – der "Midrasch Abarbanel Bibliothek" und ersten freien öffentlichen Bibliothek Jerusalems – führten. Mit der Gründung der Hebräischen Universität Jerusalem 1925 wurde sie offiziell zur National- und gleichzeitig Universitätsbibliothek, ein Status, den sie bis 2010 beibehielt. 

Zunächst befand sie sich auf dem Campus auf dem Skopusberg in Ostjerusalem, musste jedoch nach dem Unabhängigkeitskrieg 1948 schließen. Ab 1960 befand sie sich auf dem Westjerusalemer Campus Givat Ram.

Brunnen des Wissens

Heute zählt die Einrichtung fünf Sammlungen zu ihren Schwerpunkten, neben der Judaica- und Israelsammlung auch eine geisteswissenschaftliche Sammlung, die Sammlung zu "Islam und Nahost" sowie ihre Musiksammlung mit Klangarchiv. Ort des Lernens und des Austauschs soll die Bibliothek sein, beschreiben die Architekten ihren Entwurf. Menschen aller Nationalitäten, Religionen, Kulturen, Altersgruppen, Bildungsniveaus oder Einkommensklassen sollen sich hier wiederfinden, der Bau den Auftrag der Bibliothek erfüllen, Wissen zu demokratisieren.

Oder, wie es die Medienverantwortliche der Bibliothek, Rachel Neiman, formuliert: ein Brunnen des Wissens sein. Tatsächlich ähnelt die Bewegung, die das runde Dachfenster und die verschiedenen konzentrischen Kreise durch die Stockwerke bilden, einem strudelnden Sog durch die Bücherwelt. Regierungsgelder, vor allem aber namhafte Sponsoren machten das 213-Millionen-Euro-Projekt möglich, so Neiman, darunter die Jad-Hanadiv-Stiftung der Rothschild Familie.

Plakate mit Bildern von Menschen, die im aktuellen Krieg vermisst werden oder als Geiseln entführt wurden, stehen auf Stühlen in der Israelischen Nationalbibliothek, nach einem Entwurf des Architekturbüros Herzog und de Meuron / © Andrea Krogmann (KNA)
Plakate mit Bildern von Menschen, die im aktuellen Krieg vermisst werden oder als Geiseln entführt wurden, stehen auf Stühlen in der Israelischen Nationalbibliothek, nach einem Entwurf des Architekturbüros Herzog und de Meuron / © Andrea Krogmann ( KNA )

Im Schatten des Terrorangriffs 

"Soll mal werden", sagt sie noch bei vielen Bereichen der Nationalbibliothek, dem Cafe etwa oder dem multireligiösen Gebetsraumneben der Synagoge, der klare Anspielungen an eine orientalische Moschee enthält. Der Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober und der seither anhaltende Krieg im Gazastreifen haben die Pläne der Bibliothek durcheinandergebracht.

Entlang einem der Fenster zum Lesesaal stehen Stuhlreihen mit Bildern der noch in Gaza festgehaltenen Geiseln, vor jedem Porträt ein Buch, von einer der Bibliothekarinnen nach der jeweiligen Persönlichkeit ausgesucht. "Jede Geisel hat eine Geschichte", so der Titel derAusstellung. 

Warten auf friedlichere Zeiten

Der großformatige Bildschirm des Besucherzentrums fungiert zugleich als "Gedächtniswand" für die israelischen Opfer des 7. Oktober und zeigt ihre Porträts. Als "kollektives Gedächtnis des jüdischen Volkes und des Staates Israels" hat die Bibliothek ein "Dokumentations- und Bewahrungsprojekt" ins Leben gerufen worden, um Zeugnisse zum "schwarzen Schabbat" für kommende Generationen zu sammeln und zu sichern.

Die Folgen des Kriegs, sie sind auch in der Dauerausstellung sichtbar. Die wertvollsten Handschriften, darunter die "Damaskus-Krone", eine Bibelhandschrift aus dem 10. Jahrhundert aus Palästina oder ein Originalkommentar des Maimonides, werden derzeit durch Kopien oder gar einen Fotostellvertreter ersetzt. Die unersetzbaren Originale warten in Sicherheit auf friedlichere Zeiten, erklärt Stefan Litt.

Heiliglandsehnsucht als Dauerausstellung 

Die dreiteilige Dauerausstellung sei "wie es sich für eine Bibliothek gehört stark textfokussiert", ihr Titel, ins Deutsche übersetzt etwa "Wortschatz", "bewusst mehrdeutig". Sie führt den Besucher durch Werke, die die Heiliglandsehnsucht der drei monotheistischen Religionen widerspiegeln, über Exemplare der heiligen Schriften von Judentum, Christentum und Islam hin zur "Geschichte hinter der Schrift": Stücken aus den Nachlässen wichtiger Autoren, wie dem Brief, den Stefan Zweig am Tag vor seinem Suizid verfasste.

"Es gibt eine persönliche Beziehung zwischen ihm und uns als Institution, weil er Ende 1933 angeboten hat, der Nationalbibliothek einen Teil seines Vorlasses zu geben", sagt Litt. Auch dieser Brief des jüdischen österreichischen Schriftstellers ist in der Ausstellung zu sehen.

Fantasie beim Lesen 

"Die Welt von gestern", heißt das letzte, erst posthum erschienene Werk Zweigs. Ob nicht auch Handschriften und Bücher zu dieser Welt von gestern gehören und ein Bibliotheksneubau irgendwie anachronistisch sind? Stefan Litt und Rachel Neiman verneinen vehement. Das geschriebene und gedruckte Wort "sind noch nicht tot, sondern wir sind immer noch sehr eng verbunden mit dieser traditionellen Kultur, die uns noch Jahre oder Jahrzehnte begleiten wird", so Kurator Litt. Medienverantwortliche Neiman verweist auf den Auftrag des Bewahrens, zu dem der Weitergabe- und Bildungsauftrag gehörten.

Der neue Bau sei physischer Ausdruck all dessen, wofür die Bibliothek steht. Litt: "Das ist es, worum es bei Büchern geht: mehr als nur zu funktionieren. Während man liest, beschäftigt man seine Fantasie. Diese Fantasie kann nicht in einem binären System ausgedrückt werden – es gibt so viel mehr als Null und Eins!"

Quelle:
KNA