Wissenschaftler über sein Buch "Kirche und Abtreibung in Deutschland"

"Die Lähmung ist noch nicht vorbei"

Der Konflikt um die Mitwirkung der katholischen Kirche in Deutschland an der nachweispflichtigen Schwangerschaftskonfliktberatung brachte die Kirche in den 90er Jahren an den Rand einer Spaltung. Im domradio zeichnet Manfred Spieker, Professor für Christliche Sozialwissenschaften an der Universität Osnabrück, die Ursachen und den Verlauf dieses Konflikts nach.

 (DR)

domradio: Herr Prof. Spieker, wann beginnt das menschliche Leben?

Prof. Spieker: Das menschliche Leben beginnt mit der Befruchtung, also mit Eindringen des männlichen Spermiums in das weibliche Ei. Das ist dann ein Prozess von etwa zwölf Stunden, bis dass die Zellkerne verschmolzen sind und die Erbanlagen eines vollständigen neuen Menschen vorliegen.

domradio: Beim Empfang der europäischen Lebensrechtsbewegungen durch Papst Benedikt am vergangenen Montag hieß es, die Verteidigung des Lebens sei schwieriger geworden - wieso ist das so?

Prof. Spieker: Da kann man zwei Gründe nennen: Zum einen ist die Abtreibung seit etwa 30 Jahren in vielen europäischen Staaten legalisiert. Das bedeutet, in den Mentalitäten verfestigt sich die Vorstellung, es gäbe ein Recht auf Abtreibung. Zum anderen muss man sehen, dass alleine in Deutschland in diesen rund 30 Jahren etwa neun Millionen Abtreibungen vorgenommen wurden. Das bedeutet, wenn wir jedes Mal von einer Mutter, einem Vater, von einem Arzt und eventuell einer Arzthelferin ausgehen, dann sind etwa 20-25 Millionen Menschen in Deutschland in dieses Tötungsgeschäft involviert. Man  zieht also ein Tabu um dieses Thema und deshalb heißt es dauernd im Bundestag "Paragraf 218 wollen wir nicht anrühren", obwohl man Probleme bei den Spätabtreibungen sieht. Man sieht, dass Behinderungen oft der Anlass bei Abtreibungen sind und dies, obwohl nach Artikel drei des  Grundgesetzes genau das verboten ist, da ein behindertes Leben nicht diskriminiert werden darf.

domradio: In Ihrem Buch schreiben Sie, der Konflikt um den Beratungsschein habe sich zwar beruhigt, gehe aber nach wie vor weiter: Wo stehen wir denn heute in dieser Frage?

Prof. Spieker: 1999 sagte Papst Johannes Paul II.: "Beratet, aber beteiligt euch nicht an der Ausstellung des Beratungsscheins, denn dieser Schein ist eine Tötungslizenz." Daraufhin sind die Bistümer bis 2002 ausgestiegen.
Allerdings macht die Kirche in Deutschland immer noch einen gelähmten Eindruck in diesen Lebensschutzfragen. Wenn man es mit den USA vergleicht, sehen wir dort, dass 75 Prozent der Bistümer eigene Pro-Life-Sekretariate haben. Das fehlt bei uns völlig. In meinen Augen müsse die Kirche solche Sekretariate einrichten, sowohl auf der Ebene der Deutschen Bischofskonferenz, wie auf der Ebene der Bistümer und auch der Pfarreien.

domradio: Was genau ist der Unterschied in Bezug auf die Arbeit zwischen den USA und Deutschland?

Prof. Spieker: Die Pro-Life-Sekretariate haben sich in der Politik engagiert, sie haben sich auf der Ebene der Informationen in den Pfarreien engagiert. Also auf der Ebene der Bischofskonferenz werden die Sekretariate der Bistümer unterstützt und diese wiederum unterstützen die Lebensausschüsse in den Pfarrgemeinden. Dort wird eine enorm aufklärende Arbeit betrieben, sowohl in Fragen der Sexualität und Empfängnis, wie auch in politischen Fragen und der Rechtssprechung. Bei uns ist aber die Kirche nicht präsent genug. Die Lähmung, die es aufgrund des Beratungsscheins in den 90er Jahren gegeben hat ist noch nicht vorbei, so dass Lebensschutzfragen weitestgehend nicht angesprochen werden.

domradio: Was kann die Kirche oder besser gesagt: Was muss die Kirche tun?

Prof. Spieker: In der Diskussion über die Spätabtreibungen soll man sich nicht auf eine Pflichtberatung einlassen, damit begibt man sich wieder in diese Beratungsscheinfalle. Die bayrischen Bischöfe haben auch schon vor zwei Jahren erklärt, dass dies keine Lösung von Spätabtreibungen sei. Die Kirche müsse dafür eintreten, dass die medizinische Indikation im Paragraf 218 enger gefasst wird, also auf die Bedrohung des Lebens der Mutter beschränkt wird. Nächster Schritt müssen die Pro-Life-Sekretariate sein und dies auf allen Ebenen, so könne viel mehr, gerade in den Pfarreien, geschehen.

Das Buch "Kirche und Abtreibung in Deutschland. Ursachen und Verlauf eines Konflikts" von Manfred Spieker ist gerade in zweiter, erweiterter Auflage im Schöningh Verlag erschienen.