Wissenschaftler fordern Auszeiten für pflegende Angehörige

Nicht genug Zeit und Zuwendung

Der Münsteraner Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Jürgen Rinderspacher hat die Zeitnöte untersucht, die mit der Pflege eines alten Menschen verbunden sind. Fazit der Studie: Änderungen in der Arbeitswelt, bei den Pflegediensten und Auszeiten für Angehörige, die die Hauptlast der Pflege tragen, sind dringend nötig.

 (DR)

«Zeiten der Pflege», so der Titel der Untersuchung, setzten die Pflegenden unter Dauerstress, sagte Rinderspacher dem epd in Berlin. Dennoch bleibe nicht genug Zeit und Zuwendung für die Pflegebedürftigen.

Die Zeitnöte der Pflegenden sind unterschiedlich, heißt es in der Studie, die im Dezember veröffentlicht wurde. Ehepartner leiden darunter, dass sie sich vollständig an den Zeitrhythmus des Schwächeren anpassen müssen. Extrem wird der Druck, wenn der Partner dement ist.

Zeitliche Entlastung
Um die Pflege durchhalten zu können, müssen die Pflegenden zeitlich entlastet werden. Angebote würden dann angenommen, wenn sie in den Alltag passen. Als Beispiel nannte Rinderspacher eine stundenweise Betreuung am Samstag, beispielsweise in einem Café für Demenzkranke. Angebote am Sonntag hätten hingegen keinen Sinn. Eines der größten Probleme sei die fehlende Entlastung während der Nacht.

Töchter und Schwiegertöchter müssten die Pflege eines Angehörigen in der Regel mit ihrer Berufstätigkeit verbinden, sagt Rinderspacher. Die Arbeitszeit zu reduzieren, reiche oft nicht aus. Pflegende Angehörige bräuchten flexible Vereinbarungen, die geändert werden können, wenn sich die Anforderungen zu Hause ändern.

Unbezahlte Freistellung ein erster Schritt
Die sechsmonatige, unbezahlte Freistellung, die seit 2008 möglich ist, sei ein erster Schritt, meint Rinderspacher. Einen längeren Ausstieg aus dem Beruf empfehlen die Forscher indes nicht. Eine Pflege erfordere eine andere Art von Flexibilität als die Erziehung von Kindern. Es müssten eigene Lösungen entwickelt werden. Häusliche Pflege und einen schnelllebigen Alltag zu verbinden, sei ein ständiger Balanceakt. So müssten im Beruf alltagstaugliche, schnell zu vereinbarende Arbeitszeitänderungen möglich sein, beispielsweise ein späterer Beginn, Gleitzeit oder sogar eine Unterbrechung während des Tages, um einen Arztbesuch einzuschieben.

Überraschend war für die Forscher, wie bedeutsam Nachbarschaften sind, damit eine Pflege zu Hause gelingt. 20 bis 30 Prozent, schätzt Rinderspacher, beträgt der Anteil, den Nachbarn übernehmen, um das komplizierte Zeitmanagement einer Familie zu stützen, in der ein Angehöriger gepflegt wird. Sie springen kurzfristig ein, übernehmen Erledigungen oder schauen nach dem Pflegebedürftigen, damit die Angehörigen das Haus verlassen können.

Die Studie über Zeitnöte in der Pflege ist in Zusammenarbeit zwischen der Universität Bremen und dem Sozialwissenschaftlichen Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hannover) entstanden. Sie beruht unter anderem auf ausführlichen Interviews mit Pflegepersonen, Pflegebedürftigen, Pflegediensten und ehrenamtlichen sowie nachbarschaftlichen Helfern. In Deutschland erhielten 2008 nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums rund 2,1 Millionen Menschen Leistungen aus der Pflegeversicherung. Zwei Drittel von ihnen wurden zu Hause versorgt.