Tränen müssen fließen - Warum Weinen wichtig sein kann

"Wir weinen zu wenig"

Verzweifeltes Greinen, trotziges Heulen oder leises Wimmern: Für das Weinen gibt es viele Wörter. Dabei redet kaum jemand gern darüber. Experten werben für einen neuen Umgang mit Tränen und dazu ab und zu "systematisch" zu weinen.

Autor/in:
Paula Konersmann
Symbolbild: Weinende Frau / © Elnur (shutterstock)

In manchen Momenten erscheint jeder Trost weit weg. Wenn man untröstlich sei, sagte der Schriftsteller Robert Seethaler einmal, fühle es sich am meisten nach Hilfe an, wenn jemand anderes dieses Leid annehmen könne. "Es wird zu leichtfertig getröstet", erklärte er in einem Interview des Magazins "chrismon".

"Die Traurigkeit muss erstmal ins Fließen kommen, häufig wird einem aber sofort das Taschentuch gereicht. Als Geste ist das gut gemeint, aber es heißt eigentlich: Hör auf zu weinen. Stattdessen müsste man sagen: 'So, jetzt weine erst mal, du hast allen Grund dazu.'"

Wir gewöhnen uns das Weinen ab

Tränen aushalten, Schmerz und Kummer annehmen: Für Mechthild Schroeter-Rupieper ist das Alltag. "Niemand entschuldigt sich für ein Lachen", sagt die Trauerbegleiterin. "Weinen ist ebenso eine spontane Reaktion - aber viele Menschen haben eine verdrehte Sicht darauf."

Während Babys noch weinen und schreien, lernen Kinder nach und nach, sich zusammenzureißen, so die die Gründerin der Familientrauerarbeit und Leiterin des Lavia Instituts in Gelsenkirchen. "Und als Erwachsene halten wir es für richtig, uns permanent zu kontrollieren."

Weinen hat viele Gesichter

Die Gründe für Tränen sind so vielfältig wie die Arten des Weinens: Menschen weinen in Trauer, aus Übermüdung oder wegen Schmerzen, aber auch aus Freude oder Rührung, manchmal angesichts von Kitsch oder außergewöhnlicher Schönheit.

Jemand kann still vor sich hinschluchzen, bitterlich in Tränen zerfließen, verzweifelt klagen. Augen können tränenverhangen sein, jemand kann sprichwörtlich in einem Tränenmeer ertrinken oder, etwa beim französischen Dichter Charles Baudelaire, einen wahren "Tränenstrom" vergießen.

"Wenn ein Junge auf der weiterführenden Schule weint, wird er sozial geächtet"

Manches Weinen erschöpft, sagt Schroeter-Rupieper, und manches Weinen befreit. Dass viele Menschen mit den Tränen anderer schlecht umgehen könnten, liege auch daran, dass sie auf ein sogenanntes Basis-Gefühl hindeuteten: "Trauer ist ansteckend - ebenso wie Freude oder Angst."

Wer weint, macht nicht nur dem eigenen Herzen Luft, sondern gibt auch ein Signal an die Mitmenschen. Zu oft versuchten Menschen, genau das zu vermeiden, kritisiert die Beraterin. Das gelte insbesondere für Männer: "Wenn ein Junge auf der weiterführenden Schule weint, wird er sozial geächtet."

Irgendwann kommen die Tränen - in ungewöhnlichen Situationen

Ungeweinte Tränen suchten sich jedoch ihren Weg, meint Schroeter-Rupieper. "Und das sollten wir zulassen. Auch wenn wir bei einem traurigen Film weinen, bei einem rührenden Lied oder in einer Kirche."

Die US-Autorin Heather Christle beschreibt jene Tränen als besonders aussagekräftig, die "man bei einem winzigen Anlass inmitten einer größeren Tragödie vergießt" - und nennt in ihrem kürzlich erschienenen Essayband "Weinen" auch Beispiele: "Während einer stürmischen Scheidungsphase überfährt jemand ein Eichhörnchen. Am Tag nach der Beerdigung funktioniert der Münzwechselautomat im Waschsalon nicht mehr." In solchen Momenten weinten Menschen über alles und nichts zugleich, so Christle.

Weinen in der Bibel

Auch in der Bibel werden Tränen vergossen - zumeist über Tod, Krieg oder Abschied. Für jedes Geschehen gebe es eine bestimmte Zeit, so steht es im Buch Kohelet: "eine Zeit zum Weinen und eine Zeit zum Lachen; eine Zeit für die Klage und eine Zeit für den Tanz."

Am Grab des Lazarus verliert sogar Jesus selbst die Fassung. "Er ist persönlich getroffen, im Innersten erschüttert angesichts des abgrundtiefen menschlichen Leids", schreibt Schwester Ursula Hertewich in einem Beitrag auf katholisch.de über die berühmte Stelle aus dem Johannes-Evangelium: "Da weinte Jesus."

Expertin rät zum systematischen Weinen

Trauerbegleiterin Schroeter-Rupieper will Worte wie "Heulsuse" oder "rührselig" nicht hören. Sie rät vielmehr dazu, ab und zu "systematisch" zu weinen: eine Badewanne einlassen, ein Fotoalbum durchblättern oder die "Sisi"-Filme ansehen - und die Tränen fließen lassen.

"Es geht nicht darum, sich selbst in Depri-Stimmung zu versetzen", erklärt sie. "Das Ziel ist vielmehr, sich Zeit für sich selbst zu nehmen und Traurigkeit herauszulassen." In Seminaren verteile sie schon mal Zwiebeln, verrät die Expertin. Die Knollen könnten nicht nur das Auge reizen, sondern auch einen Gedankenanstoß geben, so Schroeter-Rupieper: "Wir weinen zu wenig."


Quelle:
KNA