Wenn über Stunden ein Polizeiauto vor dem Münchner Prinz-Carl-Palais steht, muss dort wohl eine wichtige Veranstaltung stattfinden. Und in der Tat diente der repräsentative Amtssitz des bayerischen Ministerpräsidenten am 19. November der Münchner Demokratiekonferenz als Konferenzort.
Finanziell gefördert vom Freistaat Bayern hatte die Europäische Rabbinerkonferenz unter anderem mit dem Bayerischen Bündnis für Toleranz eingeladen, sich einen Tag lang Zeit zu nehmen, um zu diskutieren, wie sich Demokratie und Freiheit angesichts einer Welt in politisch turbulenten Zeiten bewähren können.
Vorausgeschickt sei, dass der Polizeischutz nicht nur den Vertretern des Judentums galt, wo dies leider längst zur Normalität gehört. Er ist permanent auch notwendig für die ebenfalls eingeladene Anwältin und Frauenrechtlerin Seyran Ates mit türkisch-kurdischen Wurzeln. Bei solchen gesetzten Rahmenbedingungen stellt sich dennoch die Frage, was aktuell die größte Bedrohung für die Freiheit ist. Für den als Islamismus-Experten bekannten Ahmad Mansour sind es alle Arten von Extremismus, egal ob von rechts oder links. Die bedienten sich gegenseitig.
Er weigere sich, diesen "Wettbewerb der Extremisten" zu betreiben, so der 49-jährige israelisch-deutsche Psychologe und Autor arabisch-palästinensischer Herkunft. Zuletzt sei der Fehler gemacht worden, sich immer nur auf eine Art des Extremismus zu konzentrieren.
Ates stimmte ihm zu. Lange habe man nur auf den Rechtsextremismus geschaut, manche hätten einfach den Linksextremismus nicht wahrhaben wollen. Letztlich aber seien es immer bestimmte Personen, die von einer bestimmten Gruppe bedroht würden. Bei ihr selbst etwa seien es definitiv Muslime.
Die noch viel größere Gefahr für die Demokratie sieht Mansour indes in den sogenannten Sozialen Medien. "Wir bewegen uns in Blasen.
Algorithmen zeigen uns die Realität oder Teile der Realität." Influencer hätten heute die Macht, die Demokratie durch Desinformationen zu zerstören. Dies gelte nicht nur für Deutschland, sondern weltweit, warnte er.
Identität und Halt in Deutschland Mangelware
Dass gerade junge Menschen für extremistische Gruppen anfällig seien, erklärt Mansour unter anderem damit, dass die derzeitigen Politik-Krisen viele überforderten. "Und wo Überforderung existiert, suchen viele nach einer einfachen Antwort." Dazu komme, dass eine identitätsstiftende, haltgebende Entwicklung in Deutschland Mangelware sei. "Wir bieten kaum was an", lautete sein Vorwurf.
Jugendliche aber wollten dazugehören, und dieses Gefühl zu einer Elite zu gehören und Halt zu finden, böten Extremisten an.
"Die Islamisten sind die besseren Sozialarbeiter", so der Experte. Sie gingen dorthin, wo Jugendliche seien, machten Angebote und schafften Bindung. Bis 2019 sei das in erster Linie auf der Straße passiert, in Diskotheken oder bei einem Fußballspiel. Seit Corona habe sich alles ins Digitale verlagert. Die gesamte islamistische Szene habe sich umstrukturiert. Die Leute würden nicht mehr in Moscheen radikalisiert, sondern in den Sozialen Medien, wo ihnen, wenn sie auf einem Video länger blieben, der Algorithmus ihren Feed mit entsprechendem Material volllaufen lasse. Die Radikalisierung von vorher absolut nicht religiösen Menschen erfolge dann in kurzer Zeit, wie die Fälle Solingen, Mannheim und München gezeigt hätten.
Ates ergänzte, schon Youtube sei ein Brandbeschleuniger gewesen. Längst sei klar, dass gegen solche Narrative Gegennarrative erzeugt werden müssten. Doch politischer Wille und Geld dafür fehlten, um gegen solche Profis anzugehen: "Ich frage mich, warum verteidigen wir nicht unsere Werte?" Es entstünden immer mehr Parallelgesellschaften.
Die 62-jährige Frauenrechtlerin plädierte für eine radikale Bildungsreform: In der Grundschule müsse den Kindern Lesen, Schreiben, Rechnen und Demokratie gelehrt werden. Sie müssten medienkompetent werden und "Fake-News" von Wahrheit unterscheiden können. Vor allem aber, und da war sie sich mit Mansour einig, sollten Mädchen und Jungen in Debattierclubs einüben, mit Argumenten und Gegenargumenten mündig zu diskutieren.
Experten für ein Leben als Minderheit
Und wie steht es um die Religionsfreiheit in einem säkularen Staat?
Die Muslime, so Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt, hätten immer in Staaten gelebt, wo sie die Mehrheit gewesen seien. Nun müssten sie sich, zugewandert in europäische, moderne Staaten, mit der Aufklärung auseinandersetzen. Die Juden stünden beispielhaft dafür, dass sie in den vergangenen 2.000 Jahren immer eine Minderheit ohne Staat gewesen seien, ohne Militär und oft ohne Rechte. "Wir wurden die größten Experten in der Welt, wie wir als Minderheit überleben können."
Auch die katholische Kirche hat sich laut dem Münchner Domdekan und früheren Leiter des Katholischen Büros, Lorenz Wolf, nicht leicht getan mit dem Anspruch, die einzig wahre Religion zu sein. Doch der Holocaust, die Verfolgung und Ermordung von Millionen Juden war der Anlass im Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) eine Erklärung wie "Nostra aetate" zu verabschieden. Die Annäherung an das Judentum sei leichter gefallen, weil man das Alte Testament gemeinsam habe. "Wir haben die gleiche Grundlage, die gleiche Geschichte", so Wolf. Das habe dazu geführt, dass die katholische Kirche mit den Juden ins Gespräch kommen wollte. Erst später sei zu diesem interreligiösen Dialog auch der Islam hinzugekommen.
Es gehe darum, dass Religionen das Gemeinsame suchen und im Gespräch bleiben sollten, so der Domdekan. Damit könnten sie Vorbild sein.
Aber leider gehe von Religionen auch immer wieder Unheil und Fanatismus aus. Bayerns evangelischer Landesbischof Christian Kopp ergänzte, indem er den Zentralratspräsidenten der Juden in Deutschland, Josef Schuster, zitierte, demzufolge die Kirchen Motoren des interreligiösen Dialogs seien.
"Du kannst nicht Christ oder Christin sein, ohne mit deinen Geschwistern in Kontakt zu sein." Religionsgemeinschaften organisierten Gemeinsamkeit. "Für uns Christen ist das ein kostbares Gut, denn wir haben wenig Gemeinsames im Moment in der Welt." Dieser Beitrag sollte nicht unterschätzt werden.
Demut in Zeiten von Social Media
Waqar Tariq, Mitglied des Bundesvorstands des Liberal-Islamischen Bundes sagte, Religionen könnten durchaus ideale Beiträge für die Gesellschaft leisten, im Sinne von Werten und Menschenbildern. Dazu gehöre auch etwa Demut, gerade in einer Zeit, wo sich auf Social Media jeder für den Besseren hält. Religionen machten deutlich, der Mensch habe sich nicht selbst erschaffen, sondern es gebe eine höhere Instanz. Auch im Grundgesetz sei schließlich in der Präambel die Verantwortung vor Gott erwähnt.
Goldschmidt ging sogar so weit, dass er sagte, die leerer werdenden Kirchen in Deutschland seien ein Problem für die ganze Gesellschaft.
Denn die Gemeinschaft gehe verloren, Familien zerfielen, die Menschen hätten nur noch ihr Smartphone oder den Computer. So blieben Werte auf der Strecke. Alle Religionen sollten deshalb in Europa ein bisschen mehr tun, um die Menschen wieder zusammenzuführen.