Wie Ordensleute die Bibel lesen

Lebendige Quelle der Gottesbeziehung

Das Klosterleben fasziniert viele Menschen, auch weil es sich so stark vom eigenen Alltag unterscheidet. In einer monatlichen Reihe stellen wir verschiedene klösterliche Prinzipien vor - im November: die Lectio Divina.

Autor/in:
Kerstin-Marie Berretz OP
Eine Ordensschwester im Gebet / © Harald Oppitz (KNA)
Eine Ordensschwester im Gebet / © Harald Oppitz ( KNA )

Ordensleute fühlen sich zu einem Leben in der Nachfolge Jesu berufen. Das bedeutet, dass sie ihr eigenes Leben nach Jesu Leben und Wirken ausrichten wollen und seine Frohe Botschaft in die Welt tragen wollen. Ordensmänner und -frauen leben also in enger Verbundenheit mit Gott, denn von ihm haben sie sich in das Leben im Kloster rufen lassen.

Dabei ist und bleibt es eine ständige Herausforderung, mit Gott in Verbindung zu bleiben und jeden Tag neu zu entdecken, wozu er den oder die einzelne ruft. Denn mit der Entscheidung, ins Kloster zu gehen, ist die Frage nach der Berufung nicht abgeschlossen. Stattdessen gilt es immer neu, den Willen Gottes zu entdecken.

Tägliche Bibellektüre im Kloster

Allerdings ist es auch für Ordensleute nicht immer einfach zu wissen, was Gott will. Auch im Kloster ist viel zu tun, und trotz aller Stille mag es nicht immer gelingen, Gottes Stimme zu hören. Wie gut ist es da, dass es die Bibel gibt, denn sie ist ja das Wort Gottes.

In ihr kann man lesen und dabei entdecken, wie die Schrift einen jetzt und hier anspricht und was sie einem mitteilen möchte. Und so gehört es zum Leben im Kloster dazu, täglich die Bibel zur Hand zu nehmen und in ihr zu lesen.

Wer allerdings in der Bibel liest, kann manchmal den Eindruck gewinnen, dass es eher ein Buch mit sieben Siegeln als ein klarer Anruf Gottes ist. Denn auf den ersten Blick stehen in der Bibel Geschichten von vor 2.000 Jahren - und unsere Welt heute ist doch ganz anders als die in Israel im Jahr 0.

Die vier Stufen der "göttlichen Lesung"

Die klösterliche Tradition kennt jedoch schon seit ihrem Beginn die Methode der Lectio Divina. Manche bezeichnen sie als eine Möglichkeit, die Bibel mit Herz und Verstand zu lesen. Denn bei der Lectio Divina - also der göttlichen Lesung - liest die Schwester oder der Bruder den Schrifttext nicht einfach mit dem Verstand, sondern in meditativer Weise. Er oder sie betet quasi mit dem Text, um sich so auf ihn einzulassen.

Dabei helfen vier Stufen: zuerst einmal die lectio. Das ist das aufmerksame Lesen des eigentlichen Textes. Auch wenn man ihn schon sehr oft gelesen und gehört hat, ist es doch jedes Mal eine neue Möglichkeit, Gott in diesem Text zu begegnen, und es lohnt sich Ausschau zu halten danach, was einen heute berührt.

Eine Ordensschwester kniet vor einem Kreuz im Meditationsraum / © Harald Oppitz (KNA)
Eine Ordensschwester kniet vor einem Kreuz im Meditationsraum / © Harald Oppitz ( KNA )

Genau das vertieft der Bruder, die Schwester in der nächsten Stufe, der meditatio. Hier spürt der Ordensmensch in sich hinein, was ihn oder sie an diesem Tag im Text berührt. In dieser Meditation verweilt man bei dem einen Satz oder dem einen Wort und lässt es einfach wirken, ohne etwas zu bewerten.

In der dritten Stufe, der oratio, antwortet der Ordensmensch betend auf das Wort Gottes, das ja jeden Menschen persönlich und zu jeder Zeit ansprechen möchte. Er oder sie bringt im Gebet vor Gott, was ihn oder sie berührt oder bewegt und kann so ins Wort fassen, welche Konsequenzen die Ansprache Gottes für ihn oder sie heute hat.

Darauf folgt sich die vierte Stufe, die contemplatio. In der Kontemplation, der Zusammenschau, trägt der Ordensmensch die Erfahrung aus den vorhergegangenen Stufen in den Alltag. Idealerweise bleibt es nicht einfach beim Gebet über die Bibelstelle, sondern letztendlich soll die Lectio Divina eine Konsequenz für den Alltag haben.

Bibel lesen - Bibel verstehen

Das Wort von Karl Kraus "Übersetzen heißt Üb' Ersetzen!" trifft sehr genau die Herausforderung der Aufgabe, ein Werk von einer Sprache in eine andere zu "transportieren". Das gilt auch im Fall der Heiligen Schrift, die ja Gottes Wort in Menschenwort ist und deshalb den Gesetzmäßigkeiten menschlicher Sprache folgt wie jedes andere Buch auch.

Die Bibel / © NYU Studio (shutterstock)

Vorteile der Methode

Mit diesem Übungsweg wird die Bibel zur lebendigen Quelle der Gottesbeziehung, aus der die Ordensleute Tag für Tag schöpfen. Aber sie eignet sich nicht nur wunderbar für Ordensleute, um die Gottesbeziehung zu vertiefen. Eine Bibel kann man leicht überall dabei haben, und dann braucht es nicht mehr als ein paar ruhige Minuten, um in das Wort Gottes einzutauchen.

Gleichzeitig ist die Lectio Divina ein sehr einfacher Weg, die Bibel kennenzulernen. Mit Hilfe von Bibelleseplänen oder der Leseordnung des Kirchenjahres kann man das Angebot an Schriftstellen für den Tag annehmen und immer neu in die Bibel eintauchen. Dabei kann man sich davon überraschen lassen, wie einen die alten Texte heute aktuell berühren und einen Impuls geben, wie man jetzt das Leben gestalten kann. Voraussetzungen sind allein Freude am Lesen und Entdecken des Textes, in dem man Gott immer neu begegnen kann.

Quelle:
KNA