Zwischen Willkommenskultur und Obergrenze

Wie eine Aussage Geschichte macht

An ihrer Aussage "Wir schaffen das" muss sich Bundeskanzlerin Angela Merkel heute messen lassen. Auch wenn der humanitäre Anspruch eingelöst wurde, bleiben die Grundprobleme ungelöst.

Autor/in:
Christoph Scholz
Bundeskanzlerin Angela Merkel / © Michele Tantussi/Reuters-Pool (dpa)
Bundeskanzlerin Angela Merkel / © Michele Tantussi/Reuters-Pool ( dpa )

Als Bundeskanzlerin Angel Merkel (CDU) am 31. August 2015 vor der Bundespressekonferenz fast beiläufig "Wir schaffen das!", sagte, ahnte sie wohl kaum, wie sehr sich an dieser Aussage die Geister scheiden würden. Die eigentliche Zäsur fand wenige Tage darauf statt: In der Nacht vom 4. auf den 5. September. Nach einem aufreibenden 16-Stunden-Tag entschloss sich die Kanzlerin unter dem Druck der Ereignisse Tausende vorrangig syrische Flüchtlinge, die in Ungarn festsaßen, in Zügen nach Deutschland zu holen. Kritiker bewerteten dies als "Merkels Grenzöffnung".

Gradmesser der Flüchtlingspolitik

Spätestens damit wurde die Versicherung "Wir schaffen das!" zum Gradmesser ihrer Flüchtlingspolitik - zugleich aber auch zur Handlungsmaxime Hunderttausender freiwilliger Helfer. Bereits am 19. August hatte die Regierung ihre Flüchtlingsprognosen auf 800.000 Ankommende für das laufende Jahr hochgesetzt. Bis Mitte 2016 sollten es rund 1,4 Millionen werden. Doch bei der besagten Pressekonferenz in Berlin stand die Flüchtlingskrise gar nicht im Mittelpunkt, sondern die Zukunft des Euroraumes.

Dabei war die Fluchtbewegung längst absehbar und Europa war daran nicht unbeteiligt. Der Bürgerkrieg in Syrien spitzte sich zu. Millionen Menschen flohen oder wurden vertrieben. Das hinderte die EU nicht, ihre Finanzzusagen für das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR zu kürzen, ohne eine Perspektive für eine gemeinsame Flüchtlingspolitik zu entwickeln.

Hinzu kamen Schutzsuchende aus dem Irak, Afghanistan, Eritrea und Nordafrika. Sie alle strebten nach Mitteleuropa, vor allem über die Ägäis und die sogenannte Balkanroute. Im Sommer staute sich der Tross zunächst in Ungarn, bis sich am 4. August Tausende mit dem "March of hope" über die Autobahn Richtung Österreich und Deutschland auf den Weg machten.

Flüchtlinge am Münchner Hauptbahnhof herzlich empfangen

Allein am Wochenende nach Merkels Entscheidung trafen gut 20.000 Flüchtlinge auf dem Münchner Hauptbahnhof ein - herzlich empfangen von spontan hilfsbereiten Bürgern. Auch der Münchner Erzbischof, Kardinal Reinhard Marx, und sein protestantischer Amtsbruder, Heinrich Bedford-Strohm, bekundeten ihre Solidarität.

2015 kamen insgesamt 890.000 Menschen in Zelten, Turnhallen, Schulen oder Landschulheimen unter. Über Nacht bauten Malteser oder das Technische Hilfswerke Unterkünfte. Bürger spendeten Kleider, boten Deutschunterricht, Hilfe bei Behördengängen oder gar Unterkunft an. Mit dabei waren die Kirchen, auch geprägt durch die Haltung von Papst Franziskus: Seine erste Reise nach seiner Wahl 2013 galt den Flüchtlingen auf Lampedusa.

Hilfsbereitschaft und Einsatz der Kirchen

Bis Ende September stellte allein die katholische Kirche mehr als 800 Wohnobjekte mietfrei zu Verfügung, 3.000 hauptamtliche Mitarbeiter engagierten sich neben geschätzt mehr als 100.000 ehrenamtlichen Helfern. Nicht in der Rechnung erschienen, was Verbände, Caritasberatungsstellen oder Privatinitiativen auf die Beine stellten.

Auf ihrer Herbstvollversammlung der Bischöfe dankte Marx der Kanzlerin für ihre Bereitschaft, "eine so große Zahl an Menschen aufzunehmen". Die Bischöfe würdigten die Hilfsbereitschaft vieler als "Ausdruck einer Gesellschaft, die sich zu Grund und Menschenrechten bekennt". Zugleich mahnte der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki in Richtung Ungarn: "Stacheldraht, Schlagstöcke und Nebelbomben können kein Mittel sein, um traumatisierte Flüchtlinge von der Grenze abzuhalten".

Die beispiellose Welle der Hilfsbereitschaft, die schon bald als "Willkommenskultur" betitelt wurde, nährte die Zuversicht, dass die Herausforderung tatsächlich zu bewältigen sei.

Gesellschaft uneinig

Doch Merkels Entscheidung polarisierte die Gesellschaft. Zu den Skeptikern gehörte Bayerns damaliger Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU). Für ihn war die "Grenzöffnung" schon am Tag danach ein Fehler. Damit begann für die Union eine Zerreißprobe um die Forderung der CSU nach einer Obergrenze für Flüchtlinge.

Aus den Vorwürfen von Kontrollverlust und Staatsversagen konnte wiederum die fast abgeschriebene AfD neue Kraft schöpfen und sich binnen weniger Jahre zur größten Oppositionspartei im Bundestag entwickeln. Zu den Schattenseiten gehören auch Hass und Hetze. Allein für 2015 registrierten die Sicherheitsbehörden über 1.000 Angriffe auf Asylunterkünfte, darunter mehr als 90 Brandstiftungen.

Debatte um "Wir schaffen das"

Auf die teils harsche Kritik gab sich Merkel selbstbewusst: "Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mehr mein Land." Dabei verfolgte sie auch durchaus handfeste politische Ziele: Eine Entlastung der osteuropäischen Länder angesichts des Migrationsdrucks und die Vermeidung neuer Grenzanlagen innerhalb der EU. Ziel war schon bald eine Vereinbarung der EU mit der Türkei. Die aber ließ Monate auf sich warten, leitete dann aber eine Kehrtwende in der Flüchtlingspolitik ein - auch wenn verbal Kontinuität betont wurde. Später betonte Merkel selbstkritisch, dass sich ein Jahr wie 2015 nicht wiederholen dürfe.

Schon Ende September 2015 hatte Bundespräsident Joachim Gauck versucht, den hochherzigen Impetus mit dem Druck der Umstände zu versöhnen: "Wir wollen helfen. Unser Herz ist weit. Doch unsere Möglichkeiten sind endlich". In diesem Sinne wurde das Versprechen: "Wir schaffen das" durchaus eingelöst.

Das Festhalten an Mitmenschlichkeit und Solidarität - dem Wertefundament Europas - gegen großen Widerstand brachte Merkel und Deutschland international hohe Anerkennung ein. Eine wirkliche Lösung, auch auf europäischer Ebene, steht weiterhin aus. In Kürze soll die Vereinbarung mit der Türkei erneuert werden, während die Kirchen und Hilfswerke unablässig auf das Schicksal der Flüchtlinge hinweisen, von denen viele auf dem Weg nach Europa ihr Leben lassen.


Quelle:
KNA