Wie das Bistum Rottenburg-Stuttgart mit Missbrauchsfällen umgeht

"Ein Klima des Vertrauens"

Robert Antretter leitet seit 2002 im Bistum Rottenburg-Stuttgart die Kommission, die sich mit Verdachtsfällen sexuellen Missbrauchs befasst. Er kritisiert die "Spiegel"-Statistik, laut der in Rottenburg-Stuttgart bundesweit die höchsten Missbrauchszahlen verzeichnet werden, als irreführend.

 (DR)

KNA: Herr Antretter, wer die "Spiegel"-Geschichte über sexuellen Missbrauch gelesen und die dazugehörige Statistik mit den bundesweit höchsten Fallzahlen im Südwesten gesehen hat, kann zu dem Eindruck kommen, das Bistum Rottenburg-Stuttgart sei ein besonders gut gehüteter Hort der Pädophilie.
Antretter: Dieser Eindruck kann durch die irreführende Statistik im "Spiegel" tatsächlich entstehen. Die Realität ist eine völlig andere. Nur 4 von 23 Hinweisen, die bis in die 1960er zurückreichen, haben am Ende zu einer Verurteilung oder zu Strafbefehlen geführt. Wir gehen jedem Verdacht unabhängig und gründlich nach, und wir haben ein Klima des Vertrauens geschaffen.

KNA: Was unternimmt das Bistum im Falle eines Missbrauchsverdachts?
Antretter: Nachdem die Deutsche Bischofskonferenz 2002 ihre Richtlinien zum Umgang mit solchen Verdachtsfällen erlassen hatte, legte Bischof Fürst eine Umsetzung fest, die deutlich über diese Vorgaben hinausging: Im Bistum Rottenburg-Stuttgart gibt es eine unabhängige Kommission. Von den acht Mitgliedern werden vier nicht vom Bistum bezahlt. In anderen Diözesen leiten deren Personalchefs oder andere führende Bedienstete die Kommissionen. Wir könnten zurücktreten, wenn wir nicht mit dem einverstanden wären, was die Diözese macht. Demgegenüber haben Mitarbeiter eine ganz andere Loyalität.
Wir tagen, wenn es keinen unmittelbaren Handlungsbedarf gibt, zwei- bis dreimal im Jahr. Jeder Verdachtsfall geht automatisch nach Rom, und wir informieren den Vatikan auch immer über den Rat, den wir geben. Die Konzeption ist also sehr gut. Und in acht Jahren ist ein Vertrauensverhältnis entstanden. Das Bistum hat uns akzeptiert.

KNA: Wie geht die Bistumsleitung mit Ihren Erkenntnissen und Empfehlungen um?
Antretter: Der Bischof hat bislang alle Empfehlungen akzeptiert und nie anders gehandelt, als die Kommission empfohlen hat. Bischof Fürst kommt es auf Transparenz an, und er hat nie einen Zweifel daran aufkommen lassen, für welch ein schreckliches Verbrechen er sexuellen Missbrauch hält. Wenn es aus unserer Sicht strafrechtsrelevante Fälle gibt, dann empfehlen wir, die Staatsanwaltschaft einzuschalten. Geschähe dies nicht, würden wir uns gezwungen sehen, selbst solche Schritte einzuleiten. Den Geist der Arbeit unserer Kommission kann die "Spiegel"-Grafik also überhaupt nicht deutlich machen.

KNA: Was ist Ihnen bei dieser Arbeit besonders wichtig?
Antretter: Wir haben einen Weg gefunden, schon vorbeugend erfolgreich zu sein. Wir stehen zum Beispiel im intensiven Austausch mit den Verantwortlichen für die Priesterausbildung.

KNA: Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen Pädophilie und Zölibat?
Antretter: Die Dinge haben nichts miteinander zu tun. Wer pädophil veranlagt ist, kann dies weder durch ein Zölibatsversprechen noch durch eine Heirat kompensieren. Im Priesterseminar muss natürlich grundsätzlich die Frage nach der sexuellen Reife gestellt werden, aber ich habe den Eindruck, dass dies hier im Bistum auch geschieht. Im Übrigen geht es beim sexuellen Missbrauch nicht nur um Priester, sondern auch um Laien, die Täter sein können, und für die die Kommission ebenfalls zuständig ist.

Das Gespräch führte Michael Jacquemain.