was zählt

Wenn der Tod vom Leben singt

Hunderte Menschen sind gekommen. Neben mir sitzt eine schwarz verschleierte Muslima, ein afrikanisch aussehendes Kleinkind quengelt. Eine junge Vietnamesin weint sich die Augen aus dem Kopf, eine Deutsche hält sie liebevoll im Arm. Alle sind in der Kirche, um Anita zu verabschieden.

Engel der Kulturen / © Atelier Merten/ Dietrich
Engel der Kulturen / © Atelier Merten/ Dietrich

Anita. Die in den 80ern mit ihren kleinen Töchtern an einer Asylunterkunft in ihrem Dorf vorbeiging. "Mama, warum brennt da immer Licht?" wundert sich eines der Mädchen. Anita wusste keine Antwort, ging am nächsten Tag wieder hin. Afrikaner saßen um ein kleines Kind. Trauer und Trostlosigkeit in den Augen. Anitas Besuch zaubert ein erstes Lächeln.

Später wird diese Geschichte oft erzählt. Später, als Anita Deutschkurse initiiert, Anwälte an den Start gebracht, Abschiebungen verhindert, Menschen zu Arbeit und Wohnungen verholfen hat. Was sie mit so viel Wärme machte. Und so viel Liebe.

Diesen Sommer überreichte der Bürgermeister Anita das Bundesverdienstkreuz, mit warmen, aufrichtigen Worten voller Dank und Respekt. Schmunzelnd höre ich zu. Weiß ich doch dass Anita, wortreich und überaus hartnäckig, auf allen Ämtern stadtbekannt war. Und gefürchtet: Selten ging sie unverrichteter Dinge. Falls doch, kam sie wieder.

Geschickt nutzte Anita jede Zeit für ihre Schützlinge, wovon ich mich, als ich sie beim Zahnarzt kennenlernte, überzeugen konnte: Anita wartete auf ihre Behandlung, ein Flüchtling begleitete sie, damit sie ihm einen Artikel über sich selbst übersetzen konnte: schließlich war der junge Afrikaner gerade Weltmeister in einem Kampfsport geworden. Anita hatte ihm Verein und Trainingsmöglichkeit vermittelt. Bis ich aufgerufen wurde, hatte Anita  mich zu ihrer Weggefährtin gemacht und wusste fortan immer neue Aufgaben für mich. Typisch.

Typisch auch, dass Anita wie eine Löwin darum kämpfte, den "Engel der Kulturen" in ihrer Stadt zu verwurzeln. Zwei Künstler wollten ein Symbol für Menschlichkeit schaffen, entwickelten einen Ring mit den stilisierten Symbolen der abrahamitischen Religionen. Als die Künstler die Form ausstanzten, staunten sie: im Inneren des Rings erschien ein Engel.

Jetzt leuchtet der Engel der Kulturen auf Anitas Todesanzeige.  

So viele Schicksale, so viel Leid ist in dieser Kirche versammelt. Wir singen: "Wenn das Leid, das wir tragen, den Weg uns weist, wenn der Tod, den wir sterben, vom Leben singt."   

Flüchtlinge erzählen. Einer sagt: "Mit Anita haben wir die Hoffnung wieder gefunden".

Anitas Tod singt vom Leben.