Wenn aus Schicksalsgenossinnen Freundinnen werden

Die Al-Anons

"Wer eine so tiefe Verzweiflung geteilt hat, fühlt sich einfach miteinander verbunden!" Davon ist Kirsten überzeugt, die gar nicht Kirsten heißt. Sie möchte anonym bleiben - und von einer über vierzig Jahre währenden Freundschaft erzählen.

Autor/in:
Hilde Regeniter
 (DR)

Einer Freudschaft mit Marie, die nicht Marie heißt, so wie Martina nicht Martina und Ulrike nicht Ulrike heißt. Anonym wie anonyme Alkoholiker – nicht sie selbst, sondern ihre Männer waren das. Und so haben sie sich damals in der Selbsthilfegruppe für Angehörige Alkoholsüchtiger getroffen - kurz Al-Anon. Bis heute nennen sie sich "die Al-Anons".

Die wöchentlichen Treffen damals, erinnern sich die vier, waren wie eine Atempause. Sie tauschten sich über trinkenden Partner aus, die sich je nach Pegelstand verhielten wie Dr. Jekyll und Mr. Hide. Wie das ist, wenn der geliebte Mensch sich regelmäßig so voll laufen lässt, dass sich am Ende seine Persönlichkeit auflöst, das weiß nur, wer Gleiches erlebt hat.

Befreiende Gespräche

Die Gespräche mit Schicksalsgenossinnen waren jedenfalls befreiend, da sind sich die Al-Anon-Freundinnen einig. "Ich hatte immer das Gefühl, die wissen, wovon ich rede", meint Ulrike. Das Verständnis der Anderen, auch die Blicke von außen,  brachten automatisch Distanz zur schrecklichen Situation zu Hause. Oft konnten sie sogar gemeinsam lachen - über lallende Männer, ewig gleiche Beteuerungen und die Mechanismen der Sucht.

Weil die Gruppenstunden aber nie lang genug waren, um alles zu sagen, gingen einige nachher noch gemeinsam in die Kneipe. Alkohol kam ihnen da nie ins Glas, erzählt Martina, aber jede Menge gute Gedanken über die Lippen. So kristallisierte sich im Laufe der Zeit ein harter Kern von sechs Frauen heraus, die einander schnell mehr wurden als nur gleichgesinnte Betroffene in einem Gesprächskreis. Martina, Kirsten, Marie und Ulrike sind die vier, die auch vier Jahrzehnte später ihre Freundschaft pflegen und manchmal auch die Erinnerung an damals.

"Wenn es daheim mal wieder besonders schlimm wurde, haben wir telefoniert", sagt Ulrike. Das allein habe schon sehr geholfen. Auch weil sie Kinder im gleichen Alter hatten, fingen sie dann an, gemeinsame Aktivitäten zu organisieren. Sie machten Ausflüge in die nähere Umgebung, fuhren sogar zusammen in den Urlaub und luden sich selbstverständlich gegenseitig zu Geburtstagsfeiern und anderen Festen ein.

Große Offenheit

"Dadurch, dass wir in dieser Zeit unserer Existenzängste geteilt haben, ist eine große Offenheit entstanden", bringt es Ulrike auf den Punkt. Gerade aus dem Wissen um die Abgründe der jeweils Anderen heraus sei im Laufe der Zeit ein "starkes Band" gewachsen, das sie bis heute miteinander verbinde. So eng zu einander zu finden, war ein langer Weg, erklärt Kirsten, ein Prozess parallel zur Entwicklung der Beziehungen zu ihren alkoholkranken Partnern.

Fast alle von ihnen mussten sich am Ende von ihren Männern trennen, erzählt Marie. Diese überaus schmerzhafte Erfahrung des Verlustes schweißte die Frauen als Freundinnen aber nur noch enger zusammen. Sie hatten nun mehr Zeit füreinander, konnten gemeinsame Interessen entfalten und das Vertrauen zueinander noch vertiefen. So haben sie also helle und dunkle Momente miteinander geteilt - über Jahre und Trennungen hinweg: Mit immer größerem zeitlichen Abstand wurden auch die andauernden Gespräche über die alkoholkranken Männer immer seltener. "Und irgendwann haben wir uns nur noch unseres Lebens gefreut", sagt Marie und lacht. Kirsten, Ulrike und Martina lachen mit.


Quelle:
DR