Weltweite Aufregung um US-Spähprogramm XKeyscore

Einsicht in praktisch alles

"Fast alles, was ein typischer Nutzer im Internet tut", kann der US-Geheimdienst NSA einsehen. So schreibt es die britische Zeitung The Guardian. Was das bedeutet, erklärt der Theologe und USA-Experte Markus Voss im domradio.de-Interview. 

Proteste gegen Abhörmaßnahmen  (dpa)
Proteste gegen Abhörmaßnahmen / ( dpa )

domradio.de: XKeyscore - so heißt das Ausspähprogramm des US-Geheimdienstes NSA, das jetzt in den Schlagzeilen ist. Angeblich können US-Ermittler im Prinzip alle unsere Daten einsehen - ist das denn wirklich so?
 

Markus Voss: Also in einem Satz zusammengefasst: Ja. Was nicht automatisch passiert, ist Folgendes, nämlich dass jeder beliebige NSA-Angestellte den Bildschirm Ihres PCs, Laptops oder Ähnliches sehen kann. Das trifft nicht zu. Auch eine Fernsteuerung, eine sogenannte „Remote Control“ auf eine Festplatte, Speicherkarte etc. findet nicht statt. Beides ist zwar technisch ohne Probleme machbar, aber würde es gemacht, dann nicht flächendeckend. Sie müssen sich zunächst einmal klarmachen, dass wir vieles von dem, was die Geheimdienste tun, erst einmal nicht wissen. Deshalb ist das Überraschungsmoment jetzt auch so groß. Was wir vorher schon gewusst haben, ist, dass Metadaten gesammelt werden, also die Speicherkommunikation wer, wann, wie mit wem. Und das eventuell, obwohl diese Büros verwanzt worden waren, das wird jetzt geprüft. Und vor allem, dass die Internet-Knotenpunkte und die großen Telekommunikationsfirmen angezapft werden.

Aber XKeyscore, von dem die Öffentlichkeit gestern Abend erfahren hat, setzt dem natürlich die Krone auf. Das funktioniert so: Sie geben einen Namen ein oder eine Mailadresse oder eine IP-Adresse, also die Adresse, die jedem Endgerät im Netz zugewiesen wird, und diese Daten, die Sie jetzt gerade in die Suchmaske eingegeben haben, die werden dann benutzt und damit durchkämmt die NSA alle gesammelten Daten, auf die die Server Zugriff haben. Das waren vor fünf Jahren schon allein über 700 Server, und das obwohl Präsident Bush noch nicht einmal gesteigerten Wert auf die Fernmeldeaufklärung gelegt hat. Das funktioniert dann so, dass Sie ein Dropdown-Menü haben, aus dem Sie sich eine Begründung aussuchen dürfen, warum Sie jemanden überwachen wollen, als ob Sie ein Kissen bei amazon bestellen und lediglich die Farbe auswählen: rot oder vielleicht auch orange. Dann haben Sie alles, worauf die Server Zugriff haben, alle Mails, alle Telefonverbindungen und vereinfacht gesagt: alle Internetzugriffe. Wenn Sie schon vor über fünf Jahren weltweit 700 Server stationiert hatten ‑ und denken Sie nicht, dass sei irgendeine Kiste in der Abstellkammer, das ist gigantisch ‑, und damals schon bis zu drei Tage zwischenspeichern konnten und nun mittlerweile in der Lage sind, 30 Tage zwischenzuspeichern, trotz einer derart immensen Vervielfältigung der globalen Daten, dann können Sie sich ja vorstellen, dass die NSA alles andere als geschlafen hat.

domradio.de: Sie verfolgen ja schon lange die Politik von Barack Obama, der das Thema ja bis jetzt heruntergespielt hat. Was bedeuten eigentlich diese Enthüllungen für den US-Präsidenten?

Voss: Innenpolitisch wird sich der Schaden wohl zunächst einmal in Grenzen halten. Sie sollten nicht vergessen, dass der Präsident selbst der demokratischen Partei angehört, die man eher den progressiven Linken zuordnen kann. Und dass man die Oppositionspartei, die Republikaner, eher unter den Rechten subsummieren kann. Das heißt die Opposition wird vermutlich kein Zurückfahren dieser Programme fordern. Das andere ist nun, wie das international ankommt, wo man unter Umständen eine völlig andere Prioritätensetzung hat. Wenn nun Hillary Clinton 2016 sich um das Präsidentschaftsamt bewerben würde, dann wird sie einige Mühe haben ‑ oder ganz gleich, welcher demokratische Kandidat das sein wird – wird er einige Mühe haben, das wieder einzufangen, weil man doch im Wahlkampf, selbst bei dem Obama und Hillary Clinton selbst beteiligt waren, so sehr auf Diplomatie, auf Gespräch und Offenheit gesetzt hat, was ja nun schwierig ist.

domradio.de: Nun wird der ein oder andere mit den Schultern zucken und sagen: Ich habe ja sowieso keine großen Geheimnisse im Internet. Warum ist das denn so gefährlich, dieses Ausspähen?
 

Voss: Ob das gefährlich ist oder nicht, das ist eine Frage der Wertung. Das hängt davon ab, was Sie als das geringere Übel betrachten. Wenn Sie sagen, es ist das geringere Übel, dass meine ohnehin langweiligen Daten und E-Mails überwacht werden, wenn dafür ein Terroranschlag, z.B. am Kölner oder Bonner Hauptbahnhof, verhindert werden kann, dann ist das die eine Interpretation. Die andere Interpretation ist, dass man sagen muss: Einmal gilt auf deutschem Boden deutsches Recht. Das andere ist das unhintergehbare international anerkannte Recht auf Privatsphäre. Das wird hiermit, wenn nicht gänzlich außer Kraft gesetzt, so doch zumindest dramatisch gefährdet, wenn nun eine ganze Heerschar von NSA-Mitarbeitern mit entsprechender Klassifizierung auf diese Dinge zugreifen können, in denen Sie engen Freunden z.B. private und intimste Gedanken mitteilen.

domradio.de: Was ist denn Ihrer Meinung nach die moralische Lehre daraus, dass dieser US-Geheimdienst NSA praktisch das ganze Internet überwachen kann?

Voss: Naja, das ist eine Machtfrage und letztendlich sitzt da ein winziger Mensch hinter einem Computer. Edward Snowden hat das ja so bildhaft gesagt: Wenn ich seine Mailadresse gehabt hätte, hätte ich Obama ausspähen können. Es gibt Gründe, dass wir ihm das glauben können. Und Macht korrumpiert, absolute Macht korrumpiert absolut. Sie kennen dieses Sprichwort und Sie müssen hier unterscheiden zwischen Legalität, also was das Recht sagt, und Moralität, was das Gewissen sagt. Und als Theologe kann ich nur sagen: Schon Thomas von Aquin macht ja deutlich, dass man im Zweifelsfall auch gegen äußere Autoritäten seinem Gewissen folgen soll. Und neben dem Recht ist ausgerechnet das Gewissen die letzte Instanz, der ein deutscher Abgeordneter verpflichtet ist. Koalitionszwang hin oder her. Wenn Sie damit nicht einverstanden sind und wenn Sie da ernsthafte Bedenken haben, dann würde ich sehr stark empfehlen, dass Sie einen Brief an Ihren Abgeordneten schreiben oder ihn anrufen und deutlich machen, wie Sie da die Prioritätensetzung gern gewichtet sehen möchten.

Das Interview führte Christian Schlegel.


Proteste gegen Abhörmaßnahmen  (dpa)
Proteste gegen Abhörmaßnahmen / ( dpa )