DOMRADIO.DE: Pilgern ist ein uraltes Phänomen, dessen Ursprünge sogar auf Abraham, den Stammvater des Islams, Judentums und Christentums zurückgehen. Was macht Wallfahrten und Pilgerreisen für den modernen Menschen des 21. Jahrhunderts heute immer noch so interessant?
Domkapitular Dr. Dominik Meiering (Leitender Pfarrer der Kölner Innenstadtkirchen): In der Tat hat die Tradition des Wallfahrens und Pilgerns bis in unsere Tage nichts von ihrer Bedeutung eingebüßt – nicht zuletzt durch den Bestseller von Hape Kerkeling "Ich bin dann mal weg". In diesem Buch geht es darum, zu Fuß zu gehen, zur Ruhe, in die Stille und Einsamkeit, zu sich selbst zu kommen. Das Wallfahren zum Kölner Dom ist da noch mal ein bisschen anders: Hier geht es vor allem darum, einen Ort aufzusuchen, an dem etwas Heiliges erlebbar wird. Die Dreikönigswallfahrt heißt extra nicht mehr Domwallfahrt wie in ihren Anfängen nach dem Kölner Weltjugendtag, eben weil es gezielt um diese drei Männer aus dem Orient geht, die nach den Hirten als erste in Jesus, dem Kind in der Krippe, den erkannt haben, der wie ein König über Himmel und Erde herrscht.
Das Heilige hat immer noch seine Anziehungskraft. Der moderne Mensch braucht es auch: eine Motivation, aufzustehen und in Bewegung zu kommen. Und dafür benötigt man gute Ziele. Die Heiligen Drei Könige sind ein solches gutes Ziel. Denn sie tun drei Dinge: Sie brechen auf, das heißt, sie bleiben nicht mit der Bierdose und der Chipstüte vor dem Fernsehen sitzen. Zweitens: Sie laufen nicht die ganze Zeit mit dem Smartphone in der Hand und dem Blick auf den Boden durch die Gegend und lassen sich von äußeren Faktoren bestimmen, sondern sie heben ihren Blick, entwickeln eine Perspektive, eine Vision. In der Bibel steht: Sie sehen einen Stern, dem sie folgen.
Und drittens: Sie kommen dann am Ende in eine ganz schlichte Situation in den Stall von Bethlehem und finden dort in dem Angesicht eines Kindes Gott selbst. Diese Geschichte ist hoch spannend, weil sie genau das widerspiegelt, was der Mensch eigentlich in sich trägt. Denn er will doch aufbrechen und Visionen entwickeln. Der Mensch will das Heilige, das Göttliche entdecken und Gemeinschaft mit dem anderen. Deshalb ist die Botschaft dieser Dreikönigswallfahrt auch bis auf den heutigen Tag so aktuell.
DOMRADIO.DE: Wer sich aufmacht, um etwas zu suchen, trägt ja nicht zuletzt auch eine große Sehnsucht in sich …
Meiering: Genau, nämlich diesen Wunsch, nicht nur im Hier und Jetzt zu bleiben, sondern über sich selbst und das, was er tagtäglich erlebt, hinauszuwachsen, und über das hinaus, was ihm durch seine Geburt oder seine Geschichte auferlegt ist, etwas anderes zu finden. Ich bin davon überzeugt, dass es in jedem Menschen eine Sehnsucht nach dem Größeren, Schöneren, Glänzenderen, nach dem Liebevolleren gibt. Diese Sehnsucht treibt die Menschen an.
DOMRADIO.DE: Menschen, die weite Strecken zurücklegen, um einen heiligen Ort aufzusuchen, waren im Mittelalter ein alltäglicher Anblick. Denn die Pilgerwege führten kreuz und quer durch Europa. Warum nahmen die Gläubigen solche Wege auf sich? Was war das Ziel?
Meiering: Die vier größten Wallfahrtsorte des Mittelalters waren Jerusalem, Rom, Santiago de Compostela und – man mag es kaum glauben – Köln mit den Gebeinen der Heiligen Drei Könige. Der Kölner Dom ist zwar das Ziel von Touristen aus der ganzen Welt, aber ihn darüber hinaus nach mittelalterlicher Tradition auch neu als Pilgerort zu entdecken, das ist erst seit ein paar Jahren wieder der Fall. In Köln-Mitte werden übrigens auch die Stadtpatrone St. Gereon und St. Ursula gefeiert.
Auch das sind Ziele, die Menschen dann in Prozessionen von überall her pilgern lassen, um heilige Orte aufzusuchen. Am Ende geht es doch darum, innerlich aufzubrechen und Orte zu finden, an denen ich das mir noch Unbekannte entdecken kann – wie bei Abraham. Pilgerorte werden aufgesucht, weil da an Menschen und ihre Geschichten erinnert wird, die heilsam sind, weil sie etwas mit dem lieben Gott zu tun haben, mit dem Heiland Jesus Christus. Und wer kann da an ihm näher dran sein als die Heiligen Drei Könige, die selbst im Stall von Bethlehem gewesen sind!
Sich auf den Weg zu machen führt zu einer körperlichen und seelischen Katharsis, zu einer Läuterung einer Erneuerung. Es tut gut zu spüren, ich bin aufgebrochen. Mir persönlich geht es nicht anders, wenn ich zum Beispiel zu Fuß nach Trier oder Kevelaer pilgere, um mir auch einmal etwas zuzumuten. Zu spüren, wie Leib und Seele miteinander verschränkt sind und sich plötzlich manches klärt, ist ein großes Geschenk.
So ist auch der Pilgerweg durch unseren Kölner Dom entlang der einzelnen Stationen gedacht: vom Heiligen Christopherus über die Mailänder Madonna zum Schrein der Heiligen Dreikönige am Gerokreuz vorbei zur Schmuckmadonna bis zur Kapelle der Barmherzigkeit. Das alles sind Orte, an denen man innehalten und sich von der Geschichte neu inspirieren lassen kann. Im Übrigen ist Köln immer eine Pilgerstadt gewesen. Auch die Jakobspilger machten hier auf ihrem Weg Halt und verdienten sich ein kleines Zubrot, indem sie Getränke auf der Straße verkauften. Und deshalb heißt bis auf den heutigen Tag der Ober in einer kölschen Kneipe auch „Köbes“. Das kommt von Jakobus und ist die Abkürzung für Jakobspilger.
DOMRADIO.DE: In früheren Zeiten ging es vor allem darum, Ablässe zu gewinnen. Dabei handelte es sich um das Versprechen der Kirche bei Gott um die Vergebung der zeitlichen Strafe für bekannte und vergebene Sünden zu bitten. Obwohl der Ablasshandel bereits im 16. Jahrhundert in Verruf geraten ist, haben die Menschen bis heute die Hoffnung nicht aufgegeben, dass sie am Ende der Pilgerreise belohnt werden …
Meiering: Die Idee des Ablasshandels war ja, dass die Kirche mit der Vollmacht Gottes zeitliche Sündenstrafen erlassen kann. Aber das ist für die meisten Menschen – damals wie heute – unverständlich geblieben. Tatsache ist, dass Gott allein Sünden vergeben kann, dass allein von seiner Liebe Heil und Erlösung ausgehen. Und er allein ist es auch, der uns durch sein Denken, Reden und Handeln einladen will, neue Menschen zu werden.
Natürlich hat jeder, der pilgert, die Hoffnung, dass sich an der gegenwärtigen Situation etwas zum Guten ändert. Nicht selten wird eine solche Hoffnung auch durch ein Wunder belohnt. So gibt es ja in der Geschichte nachgewiesene Wunder von Heilungen, aber es gibt auch die vielen kleinen Wunder, dass Menschen, die auf dem Weg sind, mit einem Mal andere Einsichten über ihr Dasein gewinnen, einen neuen Blick auf ihre eigene Wirklichkeit bekommen.
Die Herausforderung besteht darin, in eine Haltung der Hoffnung zu kommen. Wohlgemerkt: Gott lässt mit sich ja keinen Deal machen – nach dem Motto: Wenn ich jetzt irgendwohin pilgere, bekomme ich von dir das, was ich erbitte oder ersehne. Gott ist die Liebe, Gott schenkt die Liebe, und er kann gar nicht anders als lieben. Aber er lässt sich nicht instrumentalisieren. Was wir beten und hoffen, dient dazu, dass wir Gottes Willen tiefer verstehen und seine Barmherzigkeit und Liebe tiefer in uns spüren.
DOMRADIO.DE: Das ganze Jahr über strömen die Menschen von überall her in Kölns Kathedrale. Für viele ist das ein Sehnsuchtsort. Zur Wallfahrtszeit können die Menschen unter dem kostbaren Dreikönigenschrein herziehen und ein kleines goldenes Reliquiar berühren. Was haben uns die drei Weisen aus dem Morgenland, die damals als erste zur Krippe kamen, heute noch zu sagen?
Meiering: Im Matthäus-Evangelium steht weder etwas von Königen noch davon, dass es drei waren, wohl aber etwas von Weisen, die kostbare Geschenke brachten, die wiederum Zeichen königlicher Würde sind: Gold, Weihrauch und Myrrhe. Traditionell werden sie interpretiert als Zeichen für Jesus selbst, der mit dem Gold als König, mit dem Weihrauch als Gottheit und mit der Myrrhe als wahrer Mensch verehrt wird. Denn mit dieser Essenz wurden damals Leichname einbalsamiert.
Was die Menschen bis heute beschäftigt: Was ist Legende und was wahr? Sind die im Dom ruhenden Reliquien wirklich die Gebeine der Heiligen Drei Könige? Und sind diese wirklich historische Figuren? Das können wir nicht beantworten, aber diese Fragen sind auch zweitrangig. Der Mensch lebt mit allen Sinnen, und alle unsere Sinne wollen tiefer verstehen, wer dieser Jesus Christus ist. Dabei helfen uns diese drei Könige. Denn sie führen uns mit ihrer Geschichte genau zu diesen Geheimnissen: Jesus ist König des Himmels und der Erde. Und Jesus ist einer, der von Gott her kommt, der Gott gleich ist, aber gleichzeitig als Mensch auch mitten unter uns gelebt hat. Das ist die Geschichte, die über die Reliquien transportiert wird.
Wir hätten keinen Dreikönigenschrein, keinen Kölner Dom, wenn es diese Geschichte nicht als Anfangspunkt gäbe. Stellen wir uns einmal vor, wir müssten versuchen, eine solche Geschichte ohne diese kraftvollen Zeichen, ohne die Musik, ohne den Duft und den Geschmack der Feste oder eine lebendige Wallfahrtstradition zu verstehen. Der Glaube kann nicht nackt sein, sondern braucht kraftvolle Zeichen. Und dabei helfen uns die Reliquien. Sie sind "Denk-Mäler". Sie helfen, darüber nachzudenken, was einmal erkannt wurde. Und wenn wir sie mit allen Sinnen verehren, treten wir ein in einen geheimnisvollen Glaubensraum, der uns verändern kann.
DOMRADIO.DE: Welche Beziehung haben Sie als Seelsorger, aber auch als Kunsthistoriker zu diesem zwischen 1190 und 1220 entstandenen kostbaren Dreikönigenschrein, der die „Herzkammer“ des Domes, aber eigentlich der ganzen Stadt ist?
Meiering: Schon als Domchorknabe habe ich voller Faszination vor dem Dreikönigenschrein gestanden, und das ist heute als Domkapitular nicht anders. Der Ort und der Schrein haben für mich nichts von ihrer Strahlkraft verloren. Und das nicht nur wegen der großartigen Goldschmiedekunst eines Nikolaus von Verdun oder weil er als der kostbarste und größte mittelalterliche Reliquienschrein der Welt mit all den Gemmen, Edelsteinen und dem vielen Gold gilt, sondern auch weil auf diesem Schrein eine tolle Geschichte zu lesen steht. Die Geschichte der Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus. Die Geschichte, dass Jesus sich am Dreikönigstag ebenso wie bei der Taufe zeigt als derjenige, der von Gott her kommt und der uns zeigt, wie menschliches Leben gelingen kann.
Oder, wie es Papst Benedikt einmal gesagt hat, der durch Jesus Christus die Möglichkeit hat, an der göttlichen Natur teilzuhaben. Es geht um die „Vergöttlichung“, die Teilhabe an der göttlichen Natur, die uns hier vor Augen gestellt wird. Der Glanz sowie die Schönheit dieses Schreines – das erlebe ich auch immer wieder bei Führungen – lassen die Menschen strahlen. Das ist ein inneres, ein frohes Strahlen ob der Schönheit der Gegenwart Gottes in uns und mitten unter uns.
Was mich persönlich aber am meisten fasziniert, ist, dass jeweils auf den Seiten des Schreins die Propheten und auch Apostel wie griechische und römische Philosophen dargestellt sind. Wenn man bedenkt, dass am Anfang des 13. Jahrhunderts die aristotelische Philosophie nach Köln kam – hier muss man Albertus Magnus erwähnen – dann wird deutlich, dass die größten Philosophen dieser Welt ebenso wie die Propheten und Apostel nach der Wahrheit suchten. Und dass eigentlich jeder, der ernsthaft nach der Wahrheit sucht, in Jesus Christus darauf eine Antwort finden kann. Das Denken des Menschen kreist seit jeher um die Wahrheit und den Sinn menschlicher Existenz. Von daher waren und sind die Menschen zu allen Zeiten immer mit dem gleichen Ziel unterwegs.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti.