Was können Demonstrationen politisch bewegen?

"Das ist Bürgerpflicht"

Zehntausende gehen in Deutschland auf die Straße, um gegen die AfD zu protestieren. Aber können Demonstrationen politisch etwas bewegen? Und sollten sich mehr Bischöfe beteiligen? Fragen an Ex-Bundestagspräsident Wolfgang Thierse.

Teilnehmer einer Demonstration gegen Rechts / © Soeren Stache (dpa)
Teilnehmer einer Demonstration gegen Rechts / © Soeren Stache ( dpa )

DOMRADIO.DE: In allen großen deutschen Städten wird derzeit demonstriert. Aber die Rechten bringt das sicherlich nicht zum Umdenken und ein AfD-Verbot wird zum jetzigen Zeitpunkt offenbar auch nicht kommen. Was bringen diese Demonstrationen dann?

Wolfgang Thierse / © Christoph Soeder (dpa)
Wolfgang Thierse / © Christoph Soeder ( dpa )

Dr. Wolfgang Thierse (Ehemaliger Bundestagspräsident und langjähriges ZdK-Mitglied): Demonstrationen sind wichtig, damit öffentlich wahrnehmbar ist, dass es nicht stimmt, wenn die Rechten, Rechtspopulisten, Rechtsextremisten und Wutbürger behaupten, sie würden für eine Mehrheit der Bevölkerung sprechen. 

Demonstrationen sind ein wichtiges Zeichen dafür, dass die Bürger begreifen, dass die Verteidigung der Demokratie nicht nur Aufgabe von Politik, Polizei, Justiz und Regierung ist, sondern auch Aufgabe der Bürger. 

Demonstrationen sind wichtig, damit Schweigen nicht als Zustimmung verstanden wird. Deswegen müssen die Bürger laut werden und deutlich machen, dass sie den Rechten nicht das Feld überlassen. 

DOMRADIO.DE: Aber konkrete politische Maßnahmen wird das nicht hervorbringen, oder?

Thierse: Das ist nicht der Punkt. Demokratie lebt davon, dass die Bürger ihre Meinung auch öffentlich bekunden und die Demokraten in den Parlamenten unterstützen. Natürlich sind Demonstrationen kein Ersatz für gutes Regierungshandeln, für die Arbeit von Polizei und Justiz.

Aber die Bürger müssen im Alltag rechtem Gedankengut widersprechen, die Menschenrechte verteidigen und zeigen, dass sie nicht schweigen. Warum sollen immer nur Rechte und Querdenker auf die Straße gehen? 

Wolfgang Thierse

"Man muss die Gefahr schon ernst nehmen und Gefahren beginnen meist ganz klein."

DOMRADIO.DE: Das Thema ist seit Tagen überall in den Medien präsent. Wird der AfD nicht so im öffentlichen Diskurs überproportional Platz eingeräumt und führt zur Überpräsenz einer Minderheiten-Meinung?

Thierse: Man muss die Gefahr schon ernst nehmen und Gefahren beginnen meist ganz klein. Das wissen wir aus unserer Geschichte. 1930 hatte die NSDAP bei den Wahlen 15 Prozent. Nach aktuellen Zahlen liegt die AfD derzeit in ostdeutschen Ländern bei 25 bis 30 Prozent.

Daran merken Sie, wie groß die Gefahr ist. Das muss man ernst nehmen, öffentlich darüber debattieren und die Lügen der AfD nicht unwidersprochen hinnehmen. Wenn es Pläne gibt, Menschen zu deportieren, dann muss man wissen, dass das Programm der AfD ist. Dazu darf man nicht schweigen. 

DOMRADIO.DE: Kann man die Situation heute mit der im Deutschland der 1930er Jahre vergleichen? 

Thierse: Es gilt der Lehrsatz: "Geschichte wiederholt sich nicht." Gerade wir Deutschen haben die Pflicht, besonders wachsam zu sein. Wir wissen, welche unfassbaren Verbrechen aus Antisemitismus, Rassismus und Rechtsextremismus entstehen können und wieviel Leid daraus entstehen kann. Die Nazis haben unser Land zerstört und daraus erwächst für uns eine Verpflichtung für die Gegenwart. 

Wolfgang Thierse

"Es macht keinen Sinn, einen AfD-Verbotsantrag auszuschließen."

DOMRADIO.DE: Wie blicken Sie auf die aktuellen Entwicklungen? Halten Sie ein AfD-Verbot für aussichtslos?

Thierse: Ich finde es macht keinen Sinn, einen AfD-Verbotsantrag auszuschließen. Ich kenne die hohen Hürden, die in Deutschland für ein Parteiverbot gelten. Das hat auch seinen guten Grund. Ich weiß auch, dass so ein Verfahren lange dauern wird und riskant ist, denn es muss gelingen. Die AfD würde sich sonst zur Opferpartei machen, aber das tut sie ohnehin schon.

Aber man sollte das auch durch den Verfassungsschutz sehr genau prüfen und beobachten, damit das Verbotsverfahren quasi wie ein Damoklesschwert immer über der AfD hängt. 

DOMRADIO.DE: Welche Mittel bleiben ansonsten? Die AfD plant offenbar, die Demokratie mit ihren eigenen Mitteln zu schlagen. Kann man da einfach zuschauen?

Thierse: Die Bürger haben die Pflicht im Alltag – in der Familie, bei Freunden, unter Kollegen, in Gemeinden – darüber zu reden, wie gefährdet die Demokratie ist. AfD-Leuten zu widersprechen, zu diskutieren, ist für uns alle eine alltägliche Aufgabe.

Wir haben viele Wahlen in diesem Jahr. Diejenigen, die bereit sind, aus Wut, Ärger oder Enttäuschung die AfD zu wählen, müssen wissen, was sie tun und in welche Gefahr sie unser Land bringen. Der Wohlstand, die Freiheit, das alles steht auf dem Spiel. Das müssen ihnen alle Demokraten in diesem Land klar machen. Das ist nicht nur Aufgabe der Politiker oder Medien, sondern das ist Bürgerpflicht. 

1989 in Leipzig: Menschenmassen bei der Montagsdemonstration auf dem Karl-Marx-Platz / © N.N. (dpa)
1989 in Leipzig: Menschenmassen bei der Montagsdemonstration auf dem Karl-Marx-Platz / © N.N. ( dpa )

DOMRADIO.DE: Sie haben die Proteste 1989 miterlebt. Ist das ein Zeichen dafür, dass Demonstrationen sehr wohl etwas bewirken können? 

Thierse: Die Situation war damals eine vollständig andere. Das waren Demonstrationen gegen ein antidemokratisches Regime. Jetzt geht es darum, die Demokratie zu verteidigen. Aber man kann daraus schon Selbstbewusstsein gewinnen: Demonstrationen, Diskussionen, sich einmischen, nicht schweigen. Es ist wichtig, selbstbewusst politisch zu agieren. 

DOMRADIO.DE: Die sechs katholischen Ost-Bistümer haben eine gemeinsame Erklärung veröffentlicht, in der sie die AfD verurteilen und die Menschen dazu auffordern, sich vor den Wahlen gut zu informieren. Sie waren auch viele Jahre Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK). Ist das schon ein außergewöhnlicher Schritt oder sollten die Bischöfe nicht auch zum Demonstrieren aufrufen oder direkt mitgehen? 

Thierse: Demonstrieren ist vielleicht nicht Sache der Bischöfe, aber ich begrüße diese Erklärung sehr – auch in ihrer Eindeutigkeit, dass da nicht diffus dahergeredet wird, sondern Ross und Reiter benannt werden, indem die Bischöfe sagen, die Freiheit unseres Landes ist auch die Freiheit der Christen.

Deswegen ist es die Verantwortung auch und gerade der katholischen Christen, diese Freiheit und die Menschenrechte zu verteidigen und rechtsextremistische und demokratiefeindliche Parteien nicht zu wählen. Es ist ein Wort, das ich sehr begrüße.

Das Interview führte Ina Rottscheidt.

Gemeinsames Wort der katholischen Ost-Bischöfe

2024 ist ein Jahr der Wahlen. Die Wahlen zum Europäischen Parlament, zu den Landtagen von Brandenburg, Sachsen und Thüringen sowie auf kommunaler Ebene fordern unsere Verantwortung. Wir stehen als Gesellschaft national wie auch auf europäischer Ebene vor großen und komplexen Herausforderungen. Deren Folgen spüren wir schon jetzt. Ihre Bewältigung verlangt uns viel ab.

Ein Delegierter der AfD wartet auf den Beginn der Europawahlversammlung. / © Klaus-Dietmar Gabbert (dpa)
Ein Delegierter der AfD wartet auf den Beginn der Europawahlversammlung. / © Klaus-Dietmar Gabbert ( dpa )
Quelle:
DR