Theologin sieht Perspektivwechsel durch Gutierrez

Was Befreiungstheologie anderen Theologien voraus hat

Vor 50 Jahren erschien das Buch "Theologie der Befreiung", das einer ganzen Bewegung den Namen gab. Im Beitrag beschreibt die Theologin Johanna Rahner die Folgen für ihr Fach.

Autor/in:
Johanna Rahner
Ein Holzkreuz bei Sonnenaufgang / © Wirestock Images (shutterstock)
Ein Holzkreuz bei Sonnenaufgang / © Wirestock Images ( shutterstock )

Angesichts gesellschaftlicher Machtstrukturen und dadurch beeinflusste Sprach-, Erkenntnis- und Wissensdiskurse setzt Befreiungstheologie mit der provokativen These ein, dass es überhaupt nicht möglich sei, Theologie nicht kontextbezogen zu betreiben. So kann es Theologie nur im Plural, in einer Vielfalt von verschiedenen kontextuellen Ansätzen geben, denn - so die Grundüberzeugung - die konkreten Erfahrungen sind von sozialer Klasse, Rasse, Kultur, Geschlecht und so weiter beeinflusst.

Die Befreiungstheologie, korrekter: die Befreiungs-Theologien, bringt in die Theologie als Ganze exemplarisch Verschiebungen der Wahrnehmung von Methoden, Denkmodellen, ja Sprach- und Wissenschaftsdiskursen ein, die für die Zeit ihrer ersten Formulierungen vielleicht provokativ erschienen sind, heute aber zum Allgemeingut gehören.

"Kritische Reflexion"

Neben diese methodologischen Grundeinsichten treten Re-Visionen oder Neuformulierungen klassischer theologischer Themen. Weil es, wie Gustavo Gutierrez schreibt, der Befreiungstheologie "um einen Glauben" geht, "der sich nicht von Verhältnissen trennen lässt, unter denen die Bewohner Lateinamerikas leben", hat Theologie zugleich eine vehement kritische Funktion; nämlich die, nach der Gültigkeit und nach den Folgen der großen Themen der christlichen Offenbarung wie Erlösung, Hoffnung, Liebe, Befreiung und Gerechtigkeit zu fragen. Weil sie als "kritische Reflexion" auch und gerade "eine Funktion der Befreiung des Menschen und der kirchlichen Gemeinde" hat, nimmt Theologie ihren eigenen hermeneutischen Ausgangspunkt bewusst bei den menschlichen Erfahrungen, der Hermeneutik der Erfahrung.

Von besonderer Relevanz sind dabei gerade die Realität von Unterdrückungserfahrungen wie Ungerechtigkeit, Leiden, Kriminalität, soziale Ausbeutung, Korruption und ihr Einfluss auf theologische Überzeugungen, die Hermeneutik von Herrschaft und sozialem Standort. Zweck der Theologie im Sinne der Befreiungstheologie ist "die Veränderung der Wirklichkeit"; daher zielen die Re-Visionen und Neuansätze auch und gerade auf die im Christus-Ereignis und seiner "Wirkung" begründete Veränderung der Lebenspraxis, wie es Karlheinz Ruhstorfer formuliert.

Eine andere Perspektive

Der ethische Impuls, das heißt die Orthopraxie hinter bzw. in der und durch die Orthodoxie, bleibt deshalb für Bernhard Nitsche der zentrale Maßstab jedes befreiungstheologischen Ansatzes. Daher geht es im Christus-Ereignis nicht um den "Träger" des Geschehens, sondern um das Geschehen selbst. "Der Schwerpunkt dieser Betrachtungsweise liegt nicht auf dem Erlöser, sondern dem Erlösungsvorgang, nicht auf dem Befreier, sondern den Befreiungsprozessen, nicht auf dem Arzt, sondern dem Heilsein durch Gesundung. Das vorrangige Interesse gilt der Sache Jesu, nicht dem Jesus, dem Christus-Geschehen, nicht Christus, und daher auch nicht der Christologie, sondern der Soteriologie", wie es Elmar Klinger sagt.

Das Bewusstwerden der eigentlich primär soteriologischen Relevanz der christologischen Ausgangsfrage ist das zentrale Anliegen der Befreiungstheologie, das für alle Schule gemacht hat. Das Christus-Geschehen selbst ist erst von seiner konkreten Wirkung her angemessen zu verstehen. Guitierrez sagt es so: "In Jesus Christus begegnen wir Gott, in menschlichen Worten lesen wir das Wort Gottes, und in geschichtlichen Ereignissen erkennen wir die Erfüllung der Verheißung. Dies ist der hermeneutische Grundzirkel: Vom Menschen zu Gott und von Gott zum Menschen, von der Geschichte zum Glauben und vom Glauben zur Geschichte, von der Bruderliebe zur Gottesliebe und von der Gottesliebe zur Bruderliebe, von menschlicher Gerechtigkeit zur Heiligkeit Gottes und von der Heiligkeit Gottes zur menschlichen Gerechtigkeit, vom Armen zu Gott und von Gott zum Armen." An diesem hermeneutischen Zirkel als Perspektivenwechsel in die Peripherie arbeiten sich Theologie und Kirche indes bis heute ab.


Prof. Johanna Rahner / © Friedhelm Albrecht (Universität Tübingen)
Quelle:
KNA