Warum sich immer mehr Menschen einsam fühlen

Gemeinsam statt einsam?

Das Gefühl der Einsamkeit verbreitet sich in Deutschland. Bruder Paulus Terwitte wundert das nicht: Er schlägt vor, sich einfach mal (wieder) gemeinsam vor die Tür oder auf eine Parkbank zu setzen.

Für eine Enttabuisierung der Einsamkeit (dpa)
Für eine Enttabuisierung der Einsamkeit / ( dpa )

DOMRADIO.DE: Ist Einsamkeit Ihrer Einschätzung nach in Deutschland reales Problem?

Bruder Paulus Terwitte (Kapuziner im Kloster Liebfrauen, Frankfurt): Ich glaube, dass das tatsächlich ein reales Problem ist. Wir sind es nicht gewohnt, einen Teil unseres Lebens in der Freizeit vor der Haustür zu leben – vielleicht noch in Vereinen. Wie glücklich, wer Vereine gefunden hat und Gleichgesinnte. Aber nachbarschaftlich vor der Haustür sitzen, im Sonnenschein, das kann man als Lebensform in Italien und Spanien finden. Ich finde hier viele Dörfer, in denen sonntagnachmittags niemand vor der Tür sitzt. Die scheinen alle bei sich im Wohnzimmer zu sitzen.

DOMRADIO.DE: Am stärksten Betroffen von Einsamkeit sind Senioren – also Menschen jenseits der 65. Wie kommt das?

Bruder Paulus: Der Zusammenhalt der Familien hat in unserer Gesellschaft nachgelassen. Auf vielen Menschen, auch jüngeren Menschen, lastet so eine Art Konsumterror. Man muss sehr viel erleben im Leben, man muss sehr viel für sich selber sorgen, man muss an sich selber denken. Dann gerät der Kontakt zu den Eltern, zu Tanten und Onkels, die vielleicht sogar unverheiratet sind, an die zweite, dritte und fünfte Stelle. Dann rücken eben Papa und Mama in den Hintergrund. Dafür gibt es Pflege- und Altenheime. Man muss selber das Leben auf Teufel-komm-raus genießen. Die Verdunstung des Christentums sagt ja den Menschen nicht mehr: „Du bist voll der Gnade. An dem Ort, wo du lebst, kannst du Fülle finden“, sondern: man muss sich die Fülle selber ins Leben holen. Da bleiben dann die Alten, die Eltern und die Kranken auf der Strecke.

DOMRADIO.DE: Was denken Sie denn, wie könnte man dieser Bewegung entgegenwirken?

Bruder Paulus: Ich glaube, an dieser Stelle sind die Kirchen herausgefordert. Sie könnten jetzt eigentlich alternative Modelle entwickeln, die Leute wieder zu vergemeinschaften. Das geschieht teilweise dadurch, dass Geburtstagsbesuche gemacht werden – zu runden Geburtstagen und ab 80 jedes Jahr. Das ist ein sehr guter Dienst. Aber man könnte noch sehr viel mehr tun. Man könnte schauen, ob man Mittagsmahl-Gemeinschaften nicht nur im Gemeindehaus entwickeln kann, sondern auch in Nachbarschaften; dass es natürlicher wird, dass Menschen sich nicht ihr halbes Schnitzel und die Kartoffeln in der Küche machen, sondern dass man sich gegenseitig einlädt zum Kochen und zum Essen. Die Mahlgemeinschaft ist etwas grundlegend Christliches. Oder dass man sich auch gemeinsam nachbarschaftsweise organisiert: mit Zeitungsstuben, einem Lesesaal und wie auch immer.

Es fehlen in unseren Gemeinden Nachbarschaften – auch gerade da, wo noch katholisches Umfeld ist – eine Art Nachbarschaftsraum, in dem Menschen einfach als Gemeinschaft vor Ort zusammenkommen.

DOMRADIO.DE: Ich kann aus persönlicher Erfahrung sagen: Genau solche Räume schafft sich meine Großmutter, die sich tatsächlich auch das eine oder andere Mal einsam fühlt. Aber nicht nur Senioren sind betroffen. Auch unter Jugendlichen fühlt sich jeder zwanzigste oft oder sogar immer einsam. Schuld daran seien die Digitalisierung und die sozialen Medien. Sollten denn nicht genau diese Dinge Abhilfe schaffen und das Gegenteil der Fall sein?

Bruder Paulus: Die nachbarschaftlichen Begegnungen vor Ort und das lokale Miteinander leiden natürlich darunter, wenn aus der Nächstenliebe plötzlich eine "Fernstenliebe" wird und alle Leute sich Gleichgesinnte in einer Internet-Blase holen, denen man nicht von Angesicht zu Angesicht begegnen muss. Da schaukelt sich dann letztlich eine Gemeinschaft in einer Blase von Literatur hoch – denn man schreibt ja eigentlich nur. Aber wenn man dann da raus ist, sitzt man alleine und weiß nicht einmal, wer nebenan wohnt. Insofern muss die Digitalisierung wieder ganz neu eingehegt werden durch ein menschliches Nachdenken darüber, wie viel wir für was wollen.

Das Leben ist ja nicht nur Briefeschreiben, nicht nur Internet und auch nicht nur Reisen, sondern es ist auch dem Nachbarn "Guten Tag" sagen und zu wissen, wer hinter dem Namen am Klingelschild steht und den Leuten im Treppenhaus "Guten Tag" sagen. Dieses normale, alltägliche Vernetzen miteinander. Diesem analogen Vernetzen wieder einen Stellenwert zu geben, ist sicher eine Herausforderung. Das sollten junge Leute auch lernen. Das geschieht auch in vielen Gruppierungen. Aber wir wissen auch, wie schwer sich junge Menschen in Gruppen einbinden lassen, weil sie alle persönlich denken, die Welt sei in der Welt "meines Digitalen". Aber die Welt ist natürlich dort, wo ich lebe, arbeite, lerne, lache und weine.

DOMRADIO.DE: In Großbritannien ist man schon weiter als wir in Deutschland. Dort gibt es ein Ministerium, das sich um die Bekämpfung der Einsamkeit kümmert. Wäre das auch in Deutschland sinnvoll?

Bruder Paulus: Das Thema Einsamkeit sollte gesellschaftlich auf jeden Fall benannt werden und muss aus der Schamecke geholt werden. Ob es gleich ein Ministerium braucht, weiß ich nicht. Aber ich glaube, es sollte Menschen möglich gemacht werden, dass sie sagen dürfen: "Ich fühle mich einsam." Und das nicht nur im Arbeitszimmer, sondern gerne auch mal in der Straßenbahn, auf einer Parkbank oder wo immer man rumläuft. Wenn fünf Einsame im Park den Mut hätten, statt auf fünf Parkbänken zu sitzen, sich auf dreien oder zweien gegenüber zu setzen und darüber zu sprechen, was sie sich eigentlich wünschen, dann wäre da schon viel geholfen. Vielleicht brauchen wir viel mehr Sozialarbeiter, Park- und Straßensozialarbeiter, die diejenigen Menschen wieder zusammenbringen, die offensichtlich alleine sind – manchmal sind sie sogar auch verwahrlost. Man kann Menschen manchmal ansehen, dass sie sich unbeachtet glauben.

Das Interview führte Moritz Dege


Bruder Paulus Terwitte vor dem Petersdom / © Romano Siciliani (KNA)
Bruder Paulus Terwitte vor dem Petersdom / © Romano Siciliani ( KNA )
Quelle:
DR