Ein wohliger Duft von Glühwein, bunte Lichterketten und der Klang von Weihnachtsliedern. All das gehört heute längst nicht mehr nur in den Dezember. Schon Mitte November öffnen Weihnachtsmärkte, stehen geschmückte Bäume in Wohnzimmern und werden Geschenke besorgt. Dabei hat offiziell die Adventszeit noch gar nicht begonnen, doch die Sehnsucht nach festlicher Stimmung ist offensichtlich früher da als vor Jahren. Was steckt dahinter?
Bräuche gegen die Dunkelheit
Wenn die Tage kürzer werden, es draußen nasskalt und dunkel wird, suchen Menschen Wärme – ganz wörtlich, aber auch emotional. Für den Autor und Weihnachtsforscher Gregor von Kursell ist das eine der Hauptursachen für den Boom winterlicher Traditionen. "Bräuche spenden Geborgenheit und Glück", sagt er.
Viele moderne Weihnachtsgewohnheiten seien dafür gemacht: Familienzeit, gemütliches Beisammensitzen, Kerzenschein, der Kakao auf dem Sofa, der immer gleiche Weihnachtsfilm, der jedes Jahr aufs Neue läuft. In einer Atmosphäre, in der es draußen trist wirkt, entsteht drinnen eine kleine heile Welt, so der Weihnachtsforscher.
Einst war der Winter die einzige Zeit, in der ein agrarisch geprägtes Leben zur Ruhe kam. Die Äcker waren abgeerntet, Vorräte verstaut, und wenn der Frost eintrat, hatten Bäuerinnen und Bauern mehr Zeit als sonst. Viele unserer Winterbräuche wurzeln in dieser alten Welt, erklärt der Forscher: "Auch wenn wir heute kaum noch landwirtschaftlich leben, sind diese kulturellen Muster geblieben."
Warum Weihnachten vermeintlich immer früher beginnt
Das Phänomen, dass Weihnachtsmärkte früher öffnen und Tannenbäume schon im November strahlen, hat für von Kursell ein doppeltes Gesicht. Einerseits sei es die einfache Lust an Schönem. "Für viele kann es gar nicht früh genug anfangen", sagt er. Gleichzeitig warnt er, dass sich die Stimmung bis Weihnachten abnutze, wenn bereits Mitte November die Wohnung voll dekoriert ist.
Andererseits beobachtet er eine Art Dauerlauf von Fest-Saison zu Fest-Saison. Halloween endet und gewissermaßen am nächsten Tag beginne für viele inzwischen die Weihnachtszeit. Diskussionen in sozialen Medien kreisen jedes Jahr früher um die Frage, wann man offiziell beginnen dürfe, zu dekorieren.
Faktor: Social Media
Eine treibende Kraft sieht der Weihnachtsforscher in Instagram, TikTok und Co. Die sozialen Medien fungieren als große Festivitätsverstärker. Influencer zeigen Dekorationen, Adventskalender, Weihnachtsfilm-Marathons und beginnen damit möglichst früh, weil es Reichweite bringt, wenn sie die ersten sind, und es sich so wirtschaftlich für sie lohnt.
"Wer mit Weihnachtscontent Geld verdient, möchte die Saison ausdehnen", so Gregor von Kursell. Die Konsumentinnen und Konsumenten ziehen dann nach, denn, was viele online sehen, wirkt wiederum als Bestätigung: Wenn alle anderen schon loslegen, dürfe man selbst auch.
Vom Advent zur verlängerten Weihnachtszeit
Dass die Adventszeit ursprünglich eine stille Zeit der Vorbereitung und des Abwartens war, wissen heute nur noch wenige. Von Kursell beobachtet: "Die Adventszeit hat sich zur 'vorweihnachtlichen Zeit' verwandelt."
Statt zu warten, gebe es heute Vorwegnahmen: Firmenfeiern, üppige Nikolaus-Gaben, teure Adventskalender, die schon selbst kleine Geschenke sind. All das habe die religiöse Dimension überlagert. Das Warten, einst geistliche Tugend, falle immer schwerer, so der 60-Jährige.
Dazu komme eine schwindende religiöse Bindung. Viele feiern Weihnachten mit großem Engagement, doch ohne daran zu glauben, dass Gottes Sohn auf die Welt kam. Dennoch blieben auch ihnen die grundlegenden weihnachtlichen Werte wie Frieden, Liebe und Familie wichtig und machten das Fest für viele weiterhin bedeutungsvoll.
Rituale als Halt in einer Krisenzeit
In einer Welt, die sich schnell verändert, steige das Bedürfnis nach Ritualen, die Sicherheit geben. "Viele Menschen sehnen sich nach Halt. Und der Advent und Weihnachten sind vertraute Rituale aus der Kindheit", sagt der Weihnachtsforscher. Ob bestimmte Lieder, der alte Christbaumschmuck oder immer gleiche Weihnachtsfilme – all diese Wiederholungen erzeugen Vertrautheit. Sie schaffen Orte, in denen man sich sicher fühlen könne.
Solche Rituale hätten Menschen auch in früheren Krisenzeiten getragen. Selbst in den entbehrungsreichen Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg versuchten Familien, so von Kursell, Weihnachten trotz Armut zu feiern, auch mit dem Wenigen, das sie hatten.
Ein frühes Weihnachten – Symptom und Sehnsucht
Wer heute schon im November über einen Weihnachtsmarkt schlendert, nimmt vielleicht einfach an einer kollektiven Sehnsucht teil: dem Wunsch nach Geborgenheit, nach Kontinuität und nach Ritualen, die Halt geben.
Vielleicht beginnt Weihnachten deshalb jedes Jahr ein bisschen früher. Nicht, weil der Handel es erzwingt oder weil Traditionen bedeutungsleerer werden, sondern weil Menschen sich nach dem Gefühl sehnen, welches Glühwein, bunte Lichterketten und der Klang von Weihnachtsliedern auch heute noch vermitteln.