DOMRADIO.DE: Die Mächtigen dieser Welt trafen sich rund um die Trauerfeierlichkeiten für Papst Franziskus und die Einführung von Papst Leo XIV. in Rom, was teils zu überraschenden Begegnungen und medial viel beachteten Momentaufnahmen führte. Was kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie solche oder auch vergleichbare Bilder sehen, bei denen die säkulare auf die kirchliche Welt trifft?
Prälat Dr. Robert Kümpel (Domkapitular emeritus, ehemaliger Leiter der Abteilung Seelsorgepersonal und später der Abteilung Pastorale Begleitung): Wir erleben in den letzten Jahren offenbar eine Renaissance des Machtwillens, der Leidenschaft einzelner, sich und ihre Wünsche, Ideen und Ziele gegen alle anderen durchzusetzen. Tief im Menschen scheint es eine Sehnsucht zu geben, die Herrschaft über andere übernehmen zu wollen, völlig gleichgültig, ob die Bewerber sich damit quer zu allen bisher geltenden Regeln und Absprachen stellen. Meist bemühen sie sich, alle bisher gültigen Werte kurzerhand umzuwerten und neue Narrative zu erfinden, die die bisher verbindlichen der Lüge bezichtigen und die eigenen Absichten rechtfertigen. Diese Tendenz findet sich bei großspurig auftretenden Diktatoren, die ihren Machtanspruch auf gefälschte Pseudowahlen stützen, ebenso wie in den sozialen Medien, wo Influencer um ihre Follower kämpfen. Und das Gleiche erleben wir in mancher Hinsicht auch in der Kirche.
Über andere Menschen Macht zu haben, Vorherrschaft auszuüben und sich als Machthaber auch öffentlich zu präsentieren und zu inszenieren, bietet offenbar ein hohes Suchtpotential. Hinzu kommt, dass die Machthaber dieser Welt augenscheinlich die große Bühne lieben, um sich und ihre Macht aller Welt vor Augen zu führen, und deshalb immer neue Überraschungen schaffen.
DOMRADIO.DE: Um der Macht willen werden Kriege geführt, bei denen ganze Städte und Landstriche dem Erdboden gleich gemacht werden, weil selbstverliebte Führer ihre überlegene Macht demonstrieren und das Recht des Stärkeren ausspielen wollen. Mit fatalen Auswirkungen. Wie schauen Sie gerade auf die allgemeine Weltlage mit Machthabern, die sich um geltende Gesetze und allgemein gültige Regeln eines friedlichen Zusammenlebens nicht scheren?

Kümpel: Wir hatten in den letzten 80 Jahren im euro-atlantischen Raum eine glückliche Phase des Aufatmens nach der furchtbaren Katastrophe des Zweiten Weltkriegs. Inzwischen haben einige kleinere und größere Machthaber wieder die Freude am Zündeln entdeckt und wollen ausprobieren, ob sie die bisher bewährten Absprachen über ein geregeltes Miteinander der Völker nicht zugunsten ihrer eigenen Machtperspektive verschieben können. Ihnen kommt dabei eine naive pazifistische Einstellung sehr entgegen, die davon ausgeht, mit der Betonung der eigenen Friedfertigkeit würden denkbare Konflikte sozusagen automatisch ausgemerzt. Dass eine solche realitätsferne Einstellung gerade erst die Aggressivität der Machtsüchtigen provoziert, lässt sich präzise am Verhalten der Machtgeilen in Politik und Wirtschaft unserer Tage ablesen. Hier fallen mir sofort Dutzende von Namen ein.
DOMRADIO.DE: Auch in der Kirche geht es viel um Macht – der sexuelle Missbrauch ist nur ein, wenn auch vielleicht das folgenschwerste Erscheinungsbild von Machtmissbrauch. Warum eigentlich ist Macht so ein dominantes Thema in der Institution Kirche?
Kümpel: Zum einen, weil der Zusammenhalt dieses Verbands von 1,4 Milliarden Katholiken die größtdenkbare Herausforderung ist, auch wenn der Papst nicht zu den weltlichen Machthabern zählt und die Kirche keine Eroberungspolitik betreibt. Zum anderen geht es um das Thema: Wer hat die Deutungshoheit im Bereich Ethos und Religion? Wer kann die Sinnzusammenhänge von Leben und Tod, von Moral und Weltverantwortung am überzeugendsten begleiten und einschärfen? Und: Darf man Menschen, denen die richtige Einsicht bislang noch fehlt, durch mehr oder weniger Druck oder Manipulation auch zum Guten zwingen? Die Hierarchie, die verantwortliche Leitung der Katholischen Kirche, kann nicht einfach nur ihre eigenen Ideen verkünden, sondern muss auch den "sensus fidelium" beachten, das gesunde Glaubensempfinden der gläubigen Massen, die in Taufe und Firmung den heiligen Geist empfangen haben.
DOMRADIO.DE: Viele Jahre saßen auch Sie als Abteilungsleiter im Erzbistum Köln an sogenannten "Schalthebeln" der Macht, wenn man so will. Wo in der Kirche ist Ihnen Macht begegnet?
Kümpel: Jeder, dem in der Kirche eine mehr oder weniger wichtige Aufgabe übertragen wird – zum Beispiel als Personalchef oder Leiter der Priesterausbildung im Bistum – erhält damit ein Stück Macht. So hängt von ihm ab, welche Priester er dem Bischof als Pfarrer vorschlägt oder welche Kapläne für eine Sonderausbildung freigestellt werden. Irgendjemand muss diese Aufgaben übernehmen. Es kommt aber entscheidend darauf an, wie er diese Funktionen ausübt: ob er als menschenfreundlich erlebt wird und sein Handeln transparent wirkt, ob er gerecht ist oder mögliche Kandidaten willkürlich bewertet, ob er hauptamtliche Laien in der Seelsorge genauso aufmerksam behandelt wie Kleriker und vieles mehr. Entsprechende Erfahrungen werden sich schnell in einem Bistum herumsprechen.
DOMRADIO.DE: Hat Jesus von Nazareth seinen Jüngern irgendwelche Weisungen zum Umgang mit Macht in seiner Kirche mitgegeben?
Kümpel: Zur Zeit Jesu galt auch im Bereich der jüdischen Theokratie weithin die weltliche Spielart vom Recht des Stärkeren. Jeder suchte seine Rechte und Interessen durchzusetzen. Als die Mutter der beiden Zebedäussöhne Jesus bittet, ihre beiden Sprösslinge sollten die beiden ersten Machthaber neben Jesus im kommenden Gottesreich werden, da nimmt Jesus diesen Zwischenfall zum Anlass, seinen Jüngern ein Gegenmodell zum üblichen Machtverständnis seiner Zeit vor Augen zu führen. Es lohnt sich, genau hinzuhören, wenn er im Matthäusevangelium sagt: "Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker unterdrücken und die Großen ihre Vollmacht gegen sie missbrauchen."
Weltliche Macht bedeutet also in der Regel Unterdrückung und Missbrauch, indem sie gegen die Bedürfnisse des Volkes eingesetzt werden. Aber: "Bei euch soll es nicht so sein", fährt Jesus dann fort, "sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll euer Sklave sein. Wie der Menschensohn nicht gekommen ist, sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele." Jesus stellt dem weltlichen Machtverständnis eine Praxis entgegen, die er selber lebt und die er auch denen auferlegt, die ihm nachfolgen wollen. Bei ihm finden wir keine Spur von Druck oder Unterdrückung, Versuche, seine Vorstellungen gegen den Willen anderer durchzusetzen, Manipulation, Gewalt oder ähnliches. Er zeigt einen hohen Respekt vor der Freiheit jedes Menschen – auch da, wo Jesus seine Gegenspieler hart kritisiert. Das kommende Reich Gottes verlangt völlig neue Grundsätze.
DOMRADIO:DE: Was heißt das aber praktisch: Wer bei euch der erste sein will, der soll euer Sklave sein? Der Papst zum Beispiel trägt seit Jahrhunderten den Titel "Servus servorum Dei" – Sklave der Sklaven Gottes. Hat das an der Machtpraxis in der Kirche etwas geändert?
Kümpel: Der Titel allein natürlich nicht. Aber die Macht in der Kirche, die Jesus seinen Jüngern vorstellt, gewinnt eine völlig neue Innenstruktur. Während es bei der weltlichen Vorstellung von Macht darum geht, in egomaner Weise für sich selbst Lebenschancen, Einfluss, Besitztümer und anderes zusammenzuraffen, kommt Jesu Machtvorstellung aus einer völlig anderen Lebenssphäre. In ihr gehört die Liebe zur Identität des Menschen, und zwar als entscheidende innere Bewegung. So bezeichnet Jesus die Liebe zu Gott und zum Nächsten nicht nur als die obersten Gebote Gottes, sondern geradezu als Wesenszüge für alle Kinder des Reiches Gottes, weil eben Gott selbst so lebt und ist.
Wer liebt, hat als entscheidendes Ziel – soweit er oder sie dazu beitragen kann – möglichst alle Menschen zum Leben und zur ewigen Freude zu verhelfen. Unser Problem besteht meist darin, dass wir der Liebe ihre alles überwältigende Macht nicht zutrauen. Wir bleiben oft irgendwo zwischen einer weltlichen Machtpraxis und Liebesversuchen hängen. Denn wir fürchten uns mehr vor weltlichen Machtangriffen, deren Folgen wir täglich erleben. So verstehen wir den Satz "Die Liebe wird am Ende siegen!" meist als frömmlerische Übertreibung und Vertröstung ohne Substanz.

DOMRADIO.DE: Und was ist, wenn es über den Weg zum Reich Gottes innerhalb der Kirche unterschiedliche Überzeugungen gibt? Wenn die einen einen Synodalen Weg gehen wollen, die anderen aber eine römische Form von Synodalität favorisieren und wieder andere von Synodalität überhaupt nichts wissen wollen? Wenn die einen den Zugang von Frauen zu den Weiheämtern verlangen, andere ihn entschieden ablehnen? Und das sind nur wenige Beispiele, an denen sich schnell die Machtfrage entzündet. Wer hat jetzt die Macht: die Hierarchie oder die Gruppen aus dem Volk Gottes?
Kümpel: Der eigentliche Machthaber in der Kirche ist nach wie vor Jesus Christus, der sein Leben hingegeben hat für uns, wie er selbst sagt. Aufgabe der Hierarchie ist, ihn in die Mitte des oder der Meinungsbildungsprozesse zu stellen, die jetzt anstehen. Dabei wird nötig sein, dass alle am Gespräch Beteiligten immer wieder die eigenen Motive und Ideen ihrer Überzeugung überprüfen, mit den Grundsätzen der Gottes- und Nächstenliebe vergleichen und gegebenenfalls korrigieren, um schließlich einen Konsens zu erreichen.
Es mag sein, dass es Jahrzehnte oder länger braucht, bis sich auf diesem Weg eine weithin einvernehmliche Lösung in der jeweiligen Frage finden lässt. Entscheidend wird sein, dass die jeweiligen Meinungsführer mit Respekt und liebevoll mit der Überzeugung der anderen Gruppen umgehen, ohne in weltliche Machtmechanismen zu verfallen. Ich bin fest davon überzeugt, Gott wirkt in diesen Diskussionen entscheidend mit! Je konsequenter wir in dem von Jesus geforderten Dienst der Liebe verbleiben, desto eher lässt sich die Lösung finden, die uns der Heilige Geist finden lassen möchte.
Genauso wichtig wie solche Grundsatzfragen ist jedoch das alltägliche Zusammenarbeiten und -leben in den Gemeinden. Die Macht hat hier derjenige – ob Pfarrer, Kaplan, Pastoralreferentin, Gemeindeassistent oder PGR-Vorsitzende – der sich auch einmal liebevoll zurücknehmen kann, wenn er merkt, dass er in einer Diskussion mit einem berechtigten Grund nicht durchdringt. Selbst beim Pfarrer reicht es nicht aus, wenn der sich einfach auf seine Amtsautorität beruft, ohne sein Gegenüber zu überzeugen. Dann müsste er mehr investieren, was Aufmerksamkeit, Zeit und Geduld angeht, um die Motive und Anliegen der Gegenseite zu verstehen und ernst zu nehmen.
Klerikalismus hilft unserer Kirche nicht weiter, sondern verscheucht die gutwilligen Gläubigen. Es kann nicht sein, dass im Mittelpunkt kirchlichen Lebens die Selbstdarstellung und Selbstbehauptung einer Klerikerkaste stehen, die eigentlich dem Volk Gottes zum Hineinwachsen in seine eigene spirituelle Identität verhelfen sollte. Das ist sicher nicht das, was Jesus mit "sein Leben hingeben" meinte.
DOMRADIO.DE: Das hieße also: Wer in der Kirche verantwortlich Macht ausüben will, darf sich nicht auf das Durchsetzen eigener Ideen versteifen, sondern muss im Gebet nach dem Willen des Vaters fragen, wenn er Christus wirklich nachfolgen will...
Kümpel: Genau, womit wir wieder beim Thema Synodalität wären. Die Kirche schreibt der Ganzheit aller Gläubigen – wie gesagt – einen "sensus fidelium" zu, der besagt, dass die Kirche in ihrer Gesamtheit nicht irren kann. Das bedeutet, dass auch den Laien in der Kirche eine hohe geistliche Reife zukommt, die – so ehemals das Ziel von Papst Franziskus – die Hierarchie für Leitungsentscheidungen sinnvoll nutzen sollte. Natürlich bedeutet das nicht, dass die Kirche die Entscheidungsroutinen weltlicher Demokratien übernehmen müsste. Die Entscheidungsformen müssten zweifellos gut überlegt und ausgehandelt werden. Es kann aber kein Argument gegen Synodalität sein, wenn bisherige Entscheidungsträger ihre alleinigen Entscheidungskompetenzen ungeschmälert behalten wollen – wie sich nach den vergangenen beiden Synodentreffen in Rom gezeigt hat.
DOMRADIO.DE: Papst Leo XIV. hat bei seiner Einführung auf dem Petersplatz gemahnt: "Es geht niemals darum, andere durch Zwang, religiöse Propaganda oder Machtmittel zu vereinnahmen, sondern immer und ausschließlich darum, so zu lieben, wie Jesus es getan hat." Es sei allen Katholiken weltweit, aber eigentlich dem gesamten Erdkreis zu wünschen, dass diese Worte verfangen. Was meinen Sie, haben sie eine Chance?
Kümpel: Ich glaube fest daran. Das einzige Hindernis wäre unser Unglaube.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti.