Warum der Theologe Reiser seine Professur niederlegt

Aus Widerstand gegen das System

Der Mainzer katholische Theologe Marius Reiser hat als erster deutscher Professor seinen Lehrstuhl aus Protest gegen die laufende Hochschulreform geräumt. Die unter dem Namen Bologna-Prozess laufenden Maßnahmen seien ein Angriff auf die Freiheit der Lehre, so Reiser. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) erläutert der 54-Jährige seinen Schritt.

 (DR)

KNA: Herr Reiser, seit 1991 sind Sie Professor für Neues Testament an der Universität Mainz. Was genau hat Sie dazu bewogen, Ihren Lehrauftrag bereits zum Ende des laufenden Wintersemesters niederzulegen?

Reiser: Diese Entscheidung ist mir nicht leicht gefallen. Der Grund dafür ist die laufende Hochschulreform, die mit der akademischen Freiheit für Studierende und Lehrende fast vollständig Schluss macht. Die Einführung der Bachelor- und Masterstudiengänge, insbesondere die sogenannte Modularisierung, führt zu einem unsinnigen Aufbau des Studiums der Theologie vor allem in den historischen Fächern.

KNA: Was heißt das konkret?
Reiser: Ich hatte bisher einen sinnvoll strukturierten Zyklus von Vorlesungen zur Einleitung und Exegese des Neuen Testaments. Die Einleitungsvorlesungen umfassten auch Einführungen in die Geschichte und Kulturgeschichte der neutestamentlichen Umwelt. Das an dogmatischen Traktaten orientierte Raster, das mit den neuen Studiengängen vorgegeben wird, würde mich zwingen, meinen Zyklus in Stücke zu zerschlagen und zuzusehen, was davon in dem neuen Raster unterzubringen ist. Da gewisse historische und literaturwissenschaftliche Aspekte des Neuen Testaments in diesem Raster gar nicht vorgesehen sind, fallen wichtige Themen des Neuen Testaments ganz aus. Die kulturgeschichtlichen Teile könnte ich erst im Master-Teil, wenn überhaupt, unterbringen. Das ist einfach unsinnig.

KNA: Befürworter des Bologna-Prozesses argumentieren, mit dem neuen System ließen sich Studienleistungen europaweit besser vergleichen. Außerdem sei durch die strikten Vorgaben der Übergang vom Gymnasium zur Universität leichter zu bewältigen.

Reiser: Auch bisher war die Anerkennung von auswärtigen Studienleistungen kein Problem. Was den Übergang vom Gymnasium zur Universität angeht: Die neuen Pläne zielen darauf ab, mehr statt weniger Abiturienten eines Jahrgangs an die Universitäten zu bringen. Damit ist eine Senkung des Niveaus vorprogrammiert. Dieser Niveauabfall ist schon seit mehreren Jahren zu beobachten. Durch «Bologna» wird dieser Prozess nur noch verstärkt.

KNA: Ein Umdenken an den deutschen Hochschulen wäre also ohnehin vonnöten gewesen?

Reiser: Alle sind sich einig, dass kleinere Reformen auch an dem alten System fällig waren. Aber warum soll man eine Studienordnung, die sich aufs Ganze gesehen bewährt hat, vollständig abschaffen? Das widerspricht schon dem alten Managergrundsatz, dass man in ein funktionierendes System nicht eingreifen soll. Das neue System bedeutet die endgültige Abkehr vom Prinzip der Autonomie und der Unabhängigkeit der Wissenschaft. Wenn es einmal fest installiert ist, wird sich herausstellen, dass Prüfungs-, Kontroll- und Verwaltungstätigkeiten überhand nehmen. Ich fürchte, vielen fehlt momentan die Fantasie sich auszumalen, welch trister und rigider Laden die verschulte deutsche Universität bis in einigen Jahren sein wird.

KNA: Glauben Sie, dass Ihr Protest die Verantwortlichen zum Nachdenken bringt?

Reiser: Die Hoffnung habe ich in der Tat. Zu meiner großen Enttäuschung haben sich ja auch der Vatikan und die deutschen Bischöfe am «Bologna-Prozess» beteiligt. Ich vermute jedoch, dass den meisten von ihnen gar nicht richtig klar ist, worauf sie sich da eingelassen haben und dass sie mit einer jahrhundertealten katholischen Tradition brechen. Schon im Mittelalter waren es nicht zuletzt die Päpste, die für die Autonomie der Universitäten eingetreten sind. Ist es nicht ein Widerspruch, wenn man sich für eine Seligsprechung von John Henry Newman einsetzt und gleichzeitig das Gegenteil dessen anstrebt, was der Kardinal als Idee der Universität umschrieben hat? Wie Humboldt hat auch er für die Freiheit der Wissenschaft plädiert.

KNA: Wie sind die Reaktionen von Kollegen auf ihren Schritt ausgefallen?

Reiser: Die Kollegen an meiner Fakultät halten sich verständlicherweise zurück. Das allgemeine Echo ist jedoch überwältigend und mit wenigen Ausnahmen uneingeschränkt zustimmend..

KNA: Rechnen Sie auch mit Protesten in der Studentenschaft?

Reiser: Die Studierenden sind im Vergleich zu den 60er und 70er Jahren fast allzu brav geworden. Sie sind jedoch die eigentlich Leidtragenden des neuen Systems. Dieses sieht nicht einmal Krisen oder längere Krankheiten vor. Wer in dieser Tretmühle aus Bachelor- und Masterstudiengängen einmal aus dem Tritt gerät, verliert unverhältnismäßig viel Zeit. Ich rechne fest damit, dass sich auch hier der Protest regt, wenn die neue Ordnung richtig angelaufen ist.

KNA: Was hat Ihre Familie zu dem Schritt gesagt?

Reiser: Meine Frau ist ganz einverstanden. Wir hatten schon immer einen einfachen Lebensstil und werden diesen beibehalten. Ich hoffe, dass meine Entlassung aus dem Dienst bald geregelt wird. In nächster Zeit möchte ich das Leben eines Privatgelehrten genießen, forschen und meinen Vorlesungszyklus zur Publikation vorbereiten.