Ökonom und Philosoph Sen erhält Friedenspreis des Buchhandels

Vordenker globaler Gerechtigkeit

Den Nobelpreis hat Amartya Sen bereits 1998 erhalten. Jetzt wird der indische Wirtschaftswissenschaftler und Philosoph auch mit dem Friedenspreis des Buchhandels ausgezeichnet. Sens großes Thema ist die Gerechtigkeit.

Autor/in:
Christoph Arens
Amartya Sen / © Anindito Mukherjee (dpa)
Amartya Sen / © Anindito Mukherjee ( dpa )

Drei Kinder streiten darum, wem eine Flöte zusteht: Das erste kann sie aufgrund seiner Fähigkeiten am besten nutzen, das zweite verfügt über kein anderes Spielzeug, und das dritte hat die Flöte selber hergestellt.

Mit dieser Geschichte regt der indische Wirtschaftswissenschaftler und Philosoph Amartya Sen, Nobelpreisträger für Ökonomie von 1998, zum Nachdenken über Gerechtigkeit an. Für jede Lösung gibt es gewichtige Argumente. Ein Ideal von Gerechtigkeit hilft nicht weiter.

Großes Thema soziale Gerechtigkeit

Für Sen ist es viel wichtiger, durch öffentlichen Vernunftgebrauch in einem demokratischen Prozess eine Einigung zu erzielen.

Das ist Sens großes Thema: Wie lässt sich soziale Gerechtigkeit für das Individuum in seinem jeweiligen gesellschaftlichen Zusammenhang verwirklichen? Der in den USA lebende Wissenschaftler verbindet dabei Fragen der Ökonomie mit denen der Moralphilosophie.

Am Mittwoch wurde dem 86-Jährigen für sein einflussreiches Werk der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels zugesprochen. "Wir ehren mit Amartya Sen einen Philosophen, der sich als Vordenker seit Jahrzehnten mit Fragen der globalen Gerechtigkeit auseinandersetzt und dessen Arbeiten zur Bekämpfung sozialer Ungleichheit in Bezug auf Bildung und Gesundheit heute so relevant sind wie nie zuvor", hieß es zur Begründung.

Sen ist überzeugt, dass gesellschaftlicher Wohlstand nicht allein am Wirtschaftswachstum zu messen sei, sondern immer auch an den Entwicklungsmöglichkeiten für die Schwächsten. Der Index der menschlichen Entwicklung, den die Vereinten Nationen seit 1990 herausgeben, geht maßgeblich auf ihn zurück. Ein Index, mit dem sich Ungleichheit messen lässt, trägt seinen Namen.

Die traditionellen Maßstäbe der Wirtschaftswissenschaftler, etwa das Bruttoinlandsprodukt oder Zahlen zu Einkommen und Besitz, hält er für wenig aussagekräftig, da sich gesellschaftliche Verwerfungen und soziale Ungerechtigkeit daraus nicht erkennen lassen.

Sen will weitere Faktoren berücksichtigen: die städtebauliche Infrastruktur, das Bildungsangebot, das Sozialgefüge oder die Gleichberechtigung der Frauen und die Situation der Familien. Diese Faktoren eröffnen oder verstellen dem Individuum persönliche Handlungsspielräume.

Das gilt auch für zukünftige Generationen: Um ihnen mindestens die gleichen Entscheidungsspielräume zu erhalten, müssen heutige Gesellschaften Verantwortung für die Umwelt und nachhaltige Entwicklung übernehmen.

Durch persönliche Erlebnisse geprägt

Persönliche Erlebnisse haben das Denken des Wirtschaftswissenschaftlers geprägt. Geboren am 3. November 1933 in Shantiniketan in Westbengalen, erlebte er die Unabhängigkeitsbewegungen in Indien während der 1940er Jahre und die Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Moslems sowie die große Hungersnot in Bengalen 1943 mit.

"Meine kindliche Seele war überwältigt von der schockierenden Erkenntnis, dass wirtschaftliche Armut und totale Unfreiheit - das Opfer hatte nicht einmal die Freiheit zu leben - aufs engste zusammenhängen" schrieb er in seinem Buch "Die Identitätsfalle" über seine Kindheitserfahrung.

Die Hungersnot in Bengalen hat Sen gelehrt, dass Hungersnöte nicht nur auf katastrophale Versorgungsdefizite zurückzuführen sind, sondern auch durch gesellschaftliche und politische Bedingungen hervorgerufen werden. "Hunger ist von Menschen gemacht", so seine Erkenntnis. Freiheitliche Strukturen, darunter Informations-, Meinungs- und Redefreiheit, können Armut und Not verringern. Sen zeigt sich überzeugt, dass Hungersnöte in Demokratien seltener vorkommen als in Diktaturen.

Demokratische Gesellschaften sind für Sen deshalb eine Grundbedingung für Gerechtigkeit. Dabei betont der Wirtschaftswissenschaftler, dass es nicht nur im Westen partizipatorische Regierungsformen gegeben hat und dass sie fast überall auf der Welt eine unwiderstehliche Anziehungskraft ausüben.

Aus Sicht von Karin Schmidt-Friderichs, Vorsteherin des Börsenvereins und Vorsitzende des Stiftungsrats, steht damit fest: "Sens inspirierendes Werk ist Aufruf dazu, eine Kultur politischer Entscheidungen zu fördern, die von der Verantwortung für andere getragen ist und niemandem das Recht auf Mitsprache und Selbstbestimmung verwehrt."


Quelle:
KNA