Vor zehn Jahren starb der Pariser Erzbischof Jean-Marie Lustiger

Einwanderersohn, Jude, Kardinal

Er war einer der prägenden Kirchenmänner Frankreichs im 20. Jahrhundert. Seither konnte keiner mehr seine Fußstapfen voll ausfüllen. Die jüdische Herkunft von Jean-Marie Lustiger rief stets auch Kritiker auf den Plan.

Autor/in:
Christoph Lennert und Alexander Brüggemann
Kardinal Jean-Marie Lustiger bei einem Gottesdienst in der Kathedrale Notre-Dame in Paris 2006. / © P.Razzo (KNA)
Kardinal Jean-Marie Lustiger bei einem Gottesdienst in der Kathedrale Notre-Dame in Paris 2006. / © P.Razzo ( KNA )

Er selbst brachte einmal auf den Punkt, was andere Zeit seines Lebens zum Widerspruch reizte: "Ich bin Kardinal, Jude, Sohn eines Einwanderers." Jean-Marie Lustiger drückte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Erzdiözese Paris und der französischen Kirche seinen Stempel auf. Vor zehn Jahren, am 5. August 2007, starb Lustiger im Alter von 80 Jahren. Er hinterließ eine Lücke, die seither nie mehr ganz zu schließen war.

Schon als Lustiger Anfang 1981 das Amt des Erzbischofs von Paris antrat, gab es böse Reaktionen. "Man kann nur staunen, dass an der Spitze der größten französischen Diözese einer steht, der nicht wirklich französischer Herkunft ist", lästerte der Traditionalisten-Erzbischof Marcel Lefebvre (1905-1991). Und er fügte spitz hinzu: "Aber das ist noch gar nichts im Vergleich zu dem, was er tun und sagen wird."

Taufe im Jugendalter

Seine jüdische Herkunft hat der 1926 als Sohn eines Strickwarenhändlers in Paris geborene Lustiger nie verleugnet. Mit 14 Jahren ließ sich Aaron taufen und nahm den Namen Jean-Marie an. Die Eltern begegneten dem Plan der Kinder - denn auch die vier Jahre jüngere Arlette trat zur katholischen Kirche über - mit Skepsis. Zwei Jahre sprachen Vater und Sohn nicht miteinander, als Lustiger nach Kriegsende verkündete, Priester werden zu wollen.

Die jüdische Herkunft - das bedeutete in Lustigers Leben auch Auschwitz, die nie vernarbende Wunde. Vor 75 Jahren, im September 1942, wurde seine Mutter ins französische Abschiebelager Drancy gebracht. Einige Monate später starb sie wie Millionen andere im Gas von Auschwitz.

Impulsiver und autoritärer Bulldozer?

"Wer von ihnen ist schuldig?", habe er sich gefragt, als er in den 50er Jahren auf dem Münchener Bahnhof die Passanten betrachtete, erinnerte sich Lustiger später. Folgerichtig war der letzte internationale Auftritt als Erzbischof: die Teilnahme an den Gedenkfeiern zum 60. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz, wo er im Januar 2004 Papst Johannes Paul II. vertrat.

Biografen beschrieben Lustiger als "Bulldozer", als impulsiv und sogar autoritär. Gepaart waren diese Eigenschaften mit Arbeitseifer und tiefer Frömmigkeit. Auf ihn gehen zahlreiche Neubauten von Kirchen in Paris zurück. Und der von ihm initiierte und auch von Bischofskollegen zunächst kritisch beäugte katholische Fernsehsender KTO, der über Kabel, Satellit und Internet zu empfangen ist, wurde zu einem - wenn auch auch finanziell klammen - Medium der katholischen Kirche in ganz Frankreich.

Sprunghafte Karriere

Lustiger machte sprunghaft Karriere: 1979 wurde der vormalige Studentenseelsorger und spätere Gemeindepfarrer in Paris zum Bischof von Orleans ernannt. Schon ein Jahr später aber holte Johannes Paul II. ihn zur Überraschung vieler als Erzbischof nach Paris zurück. Das Amt gilt immer noch als das wichtigste in Frankreichs Klerus - unabhängig davon, dass weder der Vorsitz der Bischofskonferenz noch der Titel des Primas damit verknüpft sind.

Lustiger verstand es, seine Position bis auf die internationale Ebene zu nutzen - so etwa, als er im Konflikt um das Karmelitinnenkloster beim ehemaligen KZ Auschwitz vermittelte. Seine leisen Worte, etwa beim Trauergottesdienst für Francois Mitterrand 1996, blieben den Hörern in Erinnerung. Einer seiner letzten öffentlichen Auftritte war im Januar 2007 die Teilnahme am Trauergottesdienst für Abbe Pierre, den "Vater der Obdachlosen".

Verlust bis heute spürbar

Bei seinem Rücktritt als Pariser Erzbischof 2005 hatte Lustiger fast ein Vierteljahrhundert die Erzdiözese geprägt. Im Herbst 2006 machte er in einem Brief an die Priester des Erzbistums bekannt, dass er an einer schweren Krankheit leide. Ende Mai verabschiedete er sich in der Academie francaise, der prestigereichsten französischen Gelehrteninstitution, in die er 1995 gewählt worden war. "Sie werden mich nicht wiedersehen", zitierten Teilnehmer aus den bewegenden Worten des sichtlich geschwächten Kardinals im Rollstuhl. Seinen Verlust als vernehmbare gesellschaftliche Größe spürt die französische Kirche bis heute.


Quelle:
KNA