Vor zehn Jahren erlaubten die Niederlande aktive Sterbehilfe

Abschüssige Bahn

Für Kritiker war es ein Kulturbruch: Das erste Mal erlaube ein demokratischer Staat die Tötung unschuldiger Bürger, hieß es. Am 1. April 2002, vor zehn Jahren, trat in den Niederlanden als weltweit erstem Land ein Gesetz in Kraft, das aktive Sterbehilfe zulässt.

Autor/in:
Christoph Arens
 (DR)

Einen Monat später zog Belgien nach; Luxemburg folgte 2009. Nach wie vor schauen Politiker und Ärzte in Deutschland mit Argusaugen auf die Folgen dieser Gesetze in den Nachbarländern. Am Mittwoch protestierte die Bundesärztekammer gegen Pläne, nach denen ab Donnerstag Teams einer Sterbehilfeorganisation quer durch die Niederlande reisen und zu Patienten nach Hause kommen, um ihnen auf Wunsch beim Sterben zu helfen.



Über die Grenzen ärztlicher Behandlung

Das Thema Euthanasie hat in den Niederlanden eine kurze Geschichte. In Amerika und Deutschland wurde über aktive Sterbehilfe schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit Blick auf Erbgesundheit debattiert; im Nazi-Deutschland gipfelte dieses Denken in der Ermordung von Zehntausenden Behinderten. In den Niederlanden war das Euthanasie-Thema dagegen ein Produkt der 60er und 70er Jahre. Die immer perfektere Gerätemedizin ließ eine Debatte über die Grenzen ärztlicher Behandlung aufkommen.



Seit 1994 wurde aktive Sterbehilfe von der Justiz offiziell toleriert, obwohl sie weiter strafrechtlich verboten war. Mit dem 2002 in Kraft getretenen Gesetz werde lediglich eine gängige Praxis im Sinne der Rechtssicherheit geregelt, wie die liberale Gesundheitsministerin Els Borst-Ellers betonte. Umfragen bestätigten, dass vier Fünftel der Niederländer die Regelung unterstützten.



Das Gesetz machte aktive Sterbehilfe von Bedingungen abhängig: So muss ein Patient ein Verlangen nach Sterbehilfe unbeeinflusst, freiwillig und andauernd aussprechen. Der Patient muss unerträglich leiden und unheilbar krank sein. Ein zweiter Arzt muss zugezogen werden. Nach dem Tod muss der Arzt den Fall einer Kommission melden, die die Rechtmäßigkeit prüft und andernfalls Anzeige erstattet.



Nachfrage bei Demenzerkrankten steigt

Kritiker wie der CDU-Politiker Hubert Hüppe warnten sogleich vor einer abschüssigen Bahn - zu Recht: Seit 2005 dürfen in den Niederlanden auch missgebildete Neugeborene straffrei getötet werden, wenn Bedingungen eingehalten werden. Auch werden inzwischen nicht nur schwere Krankheiten, sondern auch Altersleiden wie Taubheit oder Blindheit als Grund für Sterbehilfe akzeptiert. So wurde zuletzt ein starker Anstieg von Sterbehilfe bei Patienten gemeldet, die an beginnender Demenz litten. Im vergangenen Jahr ist nach Medienberichten erstmals auch bei einer schwer demenzkranken Frau Sterbehilfe durchgeführt worden - ohne dass sie ihren vor Jahren formulierten Wunsch noch einmal klar zum Ausdruck bringen konnte. Kein Wunder, dass die Zahl der gemeldeten Sterbehilfefälle zuletzt stark gestiegen ist. 2010 wurden 3.136 Fälle registriert, 19 Prozent mehr als im Vorjahr.



Auch in Belgien zeigen sich mögliche Weiterungen: Im vergangenen Jahr wurde bekannt, dass in mindestens vier Fällen nach Sterbehilfe gestorbenen Patienten Organe entnommen worden waren. Laut Medienberichten war dies zwar gesetzlich zulässig. Allerdings ist die Verquickung von Sterbehilfe und Organspende umstritten, weil Notlagen von Menschen ausgenutzt und Anreize zur aktiven Sterbehilfe geschaffen werden könnten.



In Deutschland ist aktive Sterbehilfe nicht eigens geregelt, aber durch das Verbot der Fremdtötung klar untersagt. Debatten gibt es allerdings über die Zulassung der ärztlichen Beihilfe zum Suizid nach Schweizer Vorbild. Speerspitze einer Zulassung ist der vom früheren Hamburger Justizsenator Roger Kusch gegründete Sterbehilfeverein. Er teilte im vergangenen Jahr mit, dass er bundesweit bislang 32 Menschen beim Suizid geholfen hat. Zugleich beschloss aber der Deutsche Ärztetag im Mai eine Berufsordnung, in der eine Beteiligung von Medizinern an der Selbsttötung ausdrücklich abgelehnt wird.



Gegner der Sterbehilfe, darunter die beiden Kirchen, sehen in der Stärkung der Palliativmedizin und der Hospizbewegung das beste Mittel, um menschenwürdiges Sterben zu ermöglichen und eine Debatte über aktive Sterbehilfe klein zu halten.