Vor der Pressekonferenz im Erzbistum München und Freising

"Vielleicht werde ich heute Mittag eines Besseren belehrt"

Eine Woche nach der Veröffentlichung des Missbrauchsgutachtens aus München steht das Erzbistum wieder im Mittelpunkt. Ein Stimmungsbericht über das Bistum und das, was bei der Pressekonferenz an diesem Donnerstag zu erwarten ist.

Türme der Münchener Liebfrauenkirche / © Ihor Pasternak (shutterstock)
Türme der Münchener Liebfrauenkirche / © Ihor Pasternak ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Erst eine Woche ist es seit der Veröffentlichung des Missbrauchs Gutachtens her. Wie erleben Sie die Stimmung im Bistum? 

Alois Bierl, Chefreporter des Sankt Michaelsbund Diözesanverbands München und Freising
Alois Bierl, Chefreporter des Sankt Michaelsbund Diözesanverbands München und Freising

Alois Bierl (Chefreporter beim katholischen Medienhaus Sankt Michaelsbund): Lukas Podolski hat einmal nach einer bösen Niederlage auf eine ähnliche Frage sarkastisch geantwortet: "Wir waren fröhlich und haben auf den Tischen getanzt." Natürlich ist die Stimmung gedrückt. Ich habe keine kirchlichen Mitarbeiter und keine Gläubigen getroffen, denen die Ergebnisse dieses Gutachtens nicht an die Nieren gegangen sind.

Alois Bierl

"Ich habe keine kirchlichen Mitarbeiter und keine Gläubigen getroffen, denen die Ergebnisse dieses Gutachtens nicht an die Nieren gegangen sind."

Obwohl die meisten erwartet haben, dass auch im Erzbistum München und Freising beim Thema Missbrauch ein jahrzehntelanges systemisches Versagen vorliegt.

Die allgemeine Empörung ist auch ganz schnell bei den Standesämtern angekommen, die die Kirchenaustritte aufnehmen. Allein in München gab es bis gestern über 650 Terminbuchungen für einen Kirchenaustritt - mehr als doppelt so viele wie sonst. Da wird jetzt die Belegschaft verstärkt, um die Anträge erledigen zu können. Auch andere bayerische Städte haben vor, in der nächsten Zeit mehr Mitarbeiter in die Standesämter zu schicken. Auch dort zeigt die Kurve der Kirchenaustritte schon jetzt steil nach oben.

DOMRADIO.DE: Das Erzbistum München fühlt sich dem emeritierten Papst Benedikt eigentlich sehr verbunden. Er kommt schließlich aus Bayern und war in München Erzbischof. Wie wurde bei Ihnen die Falschaussage aufgenommen, die er nun eingeräumt hat?

Bierl: Das hat viele noch einmal zusätzlich bestürzt und bei Kirchenkritikern Häme hervorgerufen. Enge Weggefährten fordern jetzt geradezu inständig eine Entschuldigung von Benedikt XVI. Sein früherer Mitarbeiter an der Universität Regensburg, Professor Wolfgang Weinert, verlangt ein großes Zeichen der Reue. Er befürchtet, dass Ratzingers theologisches Lebenswerk durch seine Einlassungen zum Gutachten zerstört wird. Andere verweisen darauf, dass Benedikt XVI. im Gegensatz zu seinem Vorgänger sexuellen Missbrauch bekämpft und sich auch bei Betroffenen entschuldigt hat. Aber die unwürdigen Spitzfindigkeiten in seiner 82-seitigen Erklärung zum Gutachten machen einfach traurig. Gerade in seinem Bistum München und Freising sind natürlich viele Gläubige enttäuscht.

DOMRADIO.DE: Auch Kardinal Wetter ist schwer belastet worden, der nach Ratzinger Erzbischof von München war. Er hat sich jetzt öffentlich entschuldigt, aber eben auch teilweise Vorwürfe zurückgewiesen. Wie ist das Ihrer Meinung nach zu bewerten?

Bierl: Kardinal Wetter hat sehr eindeutig in dem schwerwiegendsten Fall ein persönliches Versagen eingeräumt. Es handelt sich dabei um den bekannten pädophilen Priester aus Essen, den das Erzbistum München und Freising wieder in der Seelsorge eingesetzt hat und der dann erneut straffällig geworden ist. Man spürt sogar in diesem schriftlichen Text, wie sehr der 93-jährige Kardinal Wetter davon angefasst ist und wie ihm das wirklich zu schaffen macht. Dass der Missbrauchsskandal aber Ursachen im System Kirche und in einem überhöhten Priesterbild hat, das sieht Kardinal Wetter wohl nicht.

DOMRADIO.DE: Heute wird im Erzbistum München offiziell Stellung zu dem Gutachten genommen. Was ist da zu erwarten? Was für Konsequenzen könnte das Erzbistum jetzt ziehen?

Bierl: Das weiß ich nicht. Ich kann mir aber vorstellen, dass tatsächlich eine unabhängige Ombudsstelle eingerichtet wird, was das Gutachten ja auch empfiehlt. Dann gibt es schon Pläne, einen eigenen Seelsorger für von sexualisierter Gewalt betroffene und traumatisierte Menschen zu bestellen. Denn viele Opfer haben durch den Missbrauch ihre geistliche Heimat verloren und wollen das auch mit einem Seelsorger noch einmal durcharbeiten.

Dann kann ich mir ebenso vorstellen, dass Machtkontrollen eingeführt werden, zum Beispiel ein schon lange gefordertes, vom Bischof unabhängiges kirchliches Verwaltungsgericht. Dort könnten Katholiken ihre Klagen vorbringen. Ebenso wird sich in der Priesterausbildung einiges ändern müssen. Daran, glaube ich, kommt kein Bistum vorbei.

DOMRADIO.DE: Könnten Sie sich denn auch vorstellen, dass Kardinal Marx dem Papst noch einmal seinen Rücktritt anbieten könnte?

Alois Bierl

"Ich persönlich glaube nicht, dass Kardinal Marx zurücktritt."

Bierl: Das liegt im Bereich der reinen Spekulation. Ich persönlich glaube nicht, dass Kardinal Marx zurücktritt. Papst Franziskus hat ihn im vergangenen Sommer in die Pflicht genommen, seinen Laden aufzuräumen. Aber vielleicht werde ich heute Mittag eines anderen belehrt.

Das Interview führte Michelle Olion.

Die Erklärung von Benedikt XVI. zum Münchner Gutachten

In einer Stellungnahme hatte der emeritierte Papst Benedikt XVI. Anfang vergangenen Jahres eine wichtige Aussage seiner Einlassung aus dem Münchner Missbrauchsgutachten korrigiert. Die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) dokumentiert die von seinem Privatsekretär, Erzbischof Georg Gänswein, gegenüber KNA abgegebene Stellungnahme in vollem Wortlaut:

Münchner Missbrauchsgutachten, Westpfahl, Spilker, Wastl, WSW / © Sven Hoppe/dpa-POOL (KNA)
Münchner Missbrauchsgutachten, Westpfahl, Spilker, Wastl, WSW / © Sven Hoppe/dpa-POOL ( KNA )
Quelle:
DR