Vor 90 Jahren beendete der Versailler Vertrag den Ersten Weltkrieg

"Alles ist überaus schmerzvoll"

Rund tausend Menschen drängten sich am 28. Juni 1919 im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles. Der "Sonnenkönig" Ludwig XIV. hatte hier wichtige Audienzen abgehalten und 1871, nach dem Ende des deutsch-französischen Krieges, wurde in dem prunkvollen Saal mit den hohen Spiegeln das deutsche Kaiserreich ausgerufen. An diesem Junitag 1919 nun sollte der Erste Weltkrieg, fast fünf Jahre nach seinem Ausbruch, durch den ersten der Pariser Vorortverträge völkerrechtlich abgeschlossen werden.

 (DR)

Der britische Diplomat Harold Nicolson beschreibt eindrücklich den Moment, an dem die deutschen Vertreter, Reichsaußenminister Hermann Müller und Reichskolonialminister Johannes Bell, in den Saal gebracht wurden und zur Unterzeichnung schritten: "Die Stille ist furchteinflößend... Sie sind totenblass. Sie wirken nicht wie die Vertreter eines brutalen Militarismus... Alles ist überaus schmerzvoll."

Dabei erwähnt Nicolson gar nicht den schmerzvollsten Anblick im
Spiegelsaal: Fünf französische Kriegsveteranen mit entsetzlich entstellten Gesichtern standen in einer Nische. Auch wenn nicht sicher ist, ob Müller und Bell sie überhaupt sahen - aufschlussreich ist in jedem Fall die dahinter stehende Absicht des französischen Premiers Georges Clemenceau: Er wollte den deutschen Vertretern klar machen, für welches Elend ihr Land verantwortlich war. Rund neun Millionen Soldaten und sechs Millionen Zivilisten waren während des Ersten Weltkriegs gestorben.

Einer der zentralen, wenn auch nach hinten gerutschten Artikel (231) in dem Vertragswerk hält fest, dass "Deutschland und seine Verbündeten als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind, die die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungenen Krieges erlitten haben".

"Sklaverei ohne Ende"
Kaum ein Vertrag dürfte in der Geschichte so unterschiedlich eingeschätzt worden sein wie dieses Dokument, das in fünfmonatigen Verhandlungen zwischen 32 Nationen und ohne Beteiligung der Deutschen vereinbart wurde. In Deutschland stellte sich mit Bekanntwerden der Bedingungen im Mai 1919 die Frage, ob dieser "Schandfrieden" überhaupt anzunehmen sei. Auf einem Flugblatt wurden die Auflagen als "Sklaverei ohne Ende" bezeichnet. So etwas hatte man bei der Unterzeichnung des Waffenstillstands am 11. November 1918 nicht vorhergesehen.

Die Regierung Philipp Scheidemanns trat aus Protest geschlossen zurück. Doch wohlwissend, dass eine Ablehnung des Vertrags eine Besetzung und möglicherweise Spaltung des ganzen Landes nach sich ziehen würde, stimmte die Mehrheit der Abgeordneten im Reichstag für die Unterzeichnung. Nicht Militärs, die weiterhin die Legende des "im Felde unbesiegt" fortspannen, akzeptierten mit ihrer Unterschrift das Dokument, sondern zwei Politiker - der Sozialdemokrat Hermann Müller und Johannes Bell von der Zentrumspartei.

Sie besiegelten damit auch die Abgabe der Grenzgebiete Elsass-Lothringen, Posen und Westpreußen sowie der Stadt Danzig und weiterer Gebiete im Osten. Eupen-Malmedy ging 1920 nach einer Abstimmung an Belgien, Nordschleswig an Dänemark. Das Saargebiet wurde vorerst dem Völkerbund unterstellt. Auch die gesamten, vor allem in Afrika befindlichen deutschen Kolonien waren abzutreten.

Unter Historikern umstritten
Ob die Verkleinerung des deutschen Territoriums um ein Siebtel, die Beschränkung der Armee, die Besetzung der linksrheinischen Gebieten, die enormen Reparationsforderungen oder die Zuweisung der Kriegsschuld für die deutsche Bevölkerung am schwersten zu tragen war, ist unter Historikern umstritten. Die Tatsache, dass Hitler seine Propaganda zu einem guten Teil auf die Ablehnung des "Diktats von Versailles" stützen konnte, hat viele dazu gebracht, im Friedensschluss eine Ursache für den nächsten Weltkrieg zu sehen.

Auch auf Seiten der Alliierten gab es bereits unter Zeitgenossen Kritik an den Vertragsbedingungen. Schon während der Verhandlungen mahnte der amerikanische Präsident Woodrow Wilson davor, Deutschland "gute Gründe zu geben, eines Tages Rache üben zu wollen". Und der Ökonom John Maynard Keynes, der selbst an den Verhandlungen beteiligt war, hielt die Reparationsforderungen "für eine der schlimmsten Taten politischen Wahnsinns, für die unsere Staatsmänner je verantwortlich waren". Aus Protest legte er sein Mandat in der britischen Delegation in Versailles nieder.

In Frankreich versicherte man dagegen angesichts maroder wirtschaftlicher Zustände: "L'Allemagne paiera", Deutschland wird zahlen. Manchen ging selbst das nicht weit genug. So schrieb ein französischer Soldat 1919: "Wir sind zu schüchtern, zu höflich gewesen. Unsere Politiker sind Stümper."

Dass das deutsche Territorium im Wesentlichen ungeteilt blieb und Deutschland langfristig seine politische Macht nicht genommen wurde, kann als Vor- oder Nachteil des Vertrags gesehen werden. Der Historiker Eberhard Kolb erläuterte in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", dass erst nach 1945 eine weniger emotionsgeladene Einschätzung des Versailler Vertrags möglich war. Nach dem überwiegenden Urteil der neueren Forschung stelle er den unter den gegebenen Umständen "bestmöglichen Kompromiss" dar.