Vor 75 Jahren fand das Massaker von Babi Jar statt

Im Höllenschlund

Deutsche Gründlichkeit hat die Opferzahlen festgehalten. Exakt 33.771 Menschen ermordeten SS-Männer Ende September 1941 in Babi Jar. Wer auf das Gemetzel in der "Weiberschlucht" blickt, schaut in menschliche Abgründe.

Autor/in:
Joachim Heinz
Mahnmal in Form einer Menora auf dem Gelände der Gedenkstätte Babij Jar bei Kiew / © Harald Oppitz (KNA)
Mahnmal in Form einer Menora auf dem Gelände der Gedenkstätte Babij Jar bei Kiew / © Harald Oppitz ( KNA )

Das Grauen nahm zunächst die Gestalt eines Plakats an. Am Sonntag, den 28. September 1941, hing es in Bäumen und an den Zäunen von Kiew. "Alle Juden der Stadt Kiew und Umgebung müssen sich am Montag, dem 29. September 1941, um acht Uhr morgens an der Ecke Melnikowskaja und Dochturowskaja (neben dem Friedhof) einfinden", stand da zu lesen. Ausweise, Geld und Wertsachen seien mitzubringen, ebenso warme Kleidung und Unterwäsche. "Jeder Jude, der dieser Anordnung zuwiderhandelt und an anderem Ort angetroffen wird, wird erschossen." Die Anordnung: Sie bildete den Auftakt zur größten einzelnen Mordaktion der Deutschen während ihres Vernichtungsfeldzugs gegen die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg.

Das Grauen hat eine Vorgeschichte, genauer zwei. Die erste entspringt dem Versuch von Historikern, das Unfassbare zu erklären. Denn bereits vor dem Massaker von Babi Jar war es während des Vormarschs der deutschen Armee nach Osten zu Gewaltexzessen gekommen. Der von Adolf Hitler ausgerufene Kampf gegen den "jüdischen Bolschewismus" ließ bei den Verantwortlichen sämtliche Hemmungen fallen. Anders als noch im Polenfeldzug arbeiteten zudem Wehrmacht und die vom "Reichsführer SS" Heinrich Himmler gebildeten Einsatzgruppen eng zusammen, um die eroberten Territorien von vermeintlichen und tatsächlichen Partisanen sowie jüdischen Einwohnern zu "säubern".

Mordaktion als "Vergeltungsmaßnahme"

Das alles gipfelte im Massaker von Babi Jar. Direkter Auslöser - und damit die eigentliche Vorgeschichte - waren mehrere Bomben, die im Stadtgebiet von Kiew hochgingen und offenbar noch vor dem Abzug der sowjetischen Truppen dort platziert worden waren. Am 26. September 1941 trafen sich deswegen im "Zarenschlösschen", dem Dienstsitz von Stadtkommandant Kurt Eberhard, Vertreter von Wehrmacht und SS, um über "Vergeltungsmaßnahmen" zu beraten. Unter diesem Vorwand setzten sie die Mordaktion gegen die noch in der Stadt verbliebenen Juden - zumeist Frauen, Kinder und ältere Männer - in Gang.

Der Aufforderung auf den Plakaten leisteten am 29. September zahlreiche Menschen Folge - zur freudigen Überraschung ihrer Mörder: "Obwohl man zunächst nur mit einer Beteiligung von etwa 5.000 bis 6.000 Juden gerechnet hatte, fanden sich über 30.000 Juden ein, die infolge einer überaus geschickten Organisation bis unmittelbar vor ihrer Exekution noch an ihre Umsiedlung glaubten", heißt es in einer "Ereignismeldung". Über die Melnikowskaja, eine breite Allee, traten die Todgeweihten ihren Gang zur Hinrichtungsstätte an: die "Weiberschlucht" Babi Jar.

Die meisten Mörder blieben straffrei

Wehrmachtssoldaten bewachten den Weg, in der Schlucht warteten die Todesschützen der Einsatzkommandos, die ihre Opfer mit Genickschüssen hinrichten sollten. "Mir ist heute noch in Erinnerung, in welches Entsetzen die Juden kamen, die oben am Grubenrand zum ersten Mal auf die Leichen in der Grube hinuntersehen konnten", berichtete einer von ihnen, Kurt Werner. "Ein Großteil ging gefasst in den Tod", heißt es in einer anderen Quelle scheinbar ungerührt. "Man hatte bei manchen den Eindruck, dass sie sich zur Erschießung geradezu drängten."

Einen Tag später waren 33.771 Menschen tot, verscharrt im Sand von Babi Jar. Die Täter setzten alles daran, das Massaker zu vertuschen. 1943, als der Vormarsch der Roten Armee nicht mehr aufzuhalten war, schickte Himmler ein Sonderkommando bestehend aus KZ-Insassen nach Babi Jar, um die Leichen zu "enterden" und zu verbrennen. Die meisten Mörder wurden für ihre Untaten nie belangt.

In Babi Jar hätten die Gewehrsalven die Träume kleiner Kinder vernichtet und die Herzen ihrer Eltern, "die sie mit ihren eigenen Körpern zu schützen versuchten", sagte der damalige israelische Ministerpräsident Jitzhak Rabin bei seinem Besuch 1995. "Hier in diesem Höllenschlund endete die Geschichte einer großartigen jüdischen Welt."


Quelle:
KNA