Vor 30 Jahren explodierte das Atomkraftwerk Tschernobyl

Super-GAU

Eine unsichtbare radioaktive Wolke zog vor drei Jahrzehnten über Europa. Der Super-GAU von Tschernobyl veränderte die Welt. Einige Staaten stiegen aus der Kernkraft aus, andere setzen weiter auf Atom.

Aufräumarbeiten nach der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl vor 30 Jahren (dpa)
Aufräumarbeiten nach der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl vor 30 Jahren / ( dpa )

Kritik kommt dafür aus der katholischen Kirche.

Vor dreißig Jahren am Samstag, 26. April 1986, geriet um 1:23 Uhr Ortszeit im sowjetischen Atomkraftwerk Tschernobyl ein Experiment außer Kontrolle. Reaktor vier explodierte. Der Super-GAU, der größte anzunehmende Unfall, war eingetreten.

Bischof Hanke mit einschneidendem Erlebnis

Der Eichstätter Bischof Gregor Maria Hanke war damals 30 Jahre alt und erinnert sich im Interview mit domradio.de sehr gut an die Katastrophe. Die Dramatik sei ihm sehr wohl klar klar geworden, betonte der Bischof, der seit vielen Jahren für seine kritische und ablehnende Haltung zur Atomenergie bekannt ist. Ein einschneidendes Erlebnis habe er jedoch knapp zwölf Jahre später gehabt, als er das weißrussische Minsk besuchte. "Dort war es möglich, ein Heim für von Tschernobyl geschädigte Kinder zu besuchen. Ich sah diese Kinder, die unheilbar krank waren und diese Kinder spielten uns zu Ehren in einem kleinen Orchester wunderschöne Musik. Die Leiterin des Heimes sagte uns nach dieser Vorführung: "Wenn Sie in einigen Monaten wiederkommen, wird wahrscheinlich keines dieser Kinder mehr leben". Er erinnere sich noch, wie ihm diese Aussage in die Knochen gefahren sei. Dadurch sei ihm deutlich geworden, welche Auswirkung Tschernobyl hatte.

Ähnlich katastrophal wie die Reaktor-Katastrophe in Tschernobyl war nur noch 25 Jahre später die Kernschmelze im Kraftwerk Fukushima in Japan. Tschernobyl und Fukushima zusammen haben die Diskussion über Kernkraft verändert - vor allem im hoch industrialisierten Deutschland, das sich 2011 auf einen völligen Ausstieg festgelegt hat.

Radioaktive Wolke

Aber der Super-GAU von Tschernobyl läutete auch das Ende der bis dahin als stabil geltenden Sowjetunion ein. Tagelang verschwieg die sowjetische Führung unter Generalsekretär Michail Gorbatschow das Unglück. Doch mehr als 100.000 Menschen mussten umgesiedelt werden, knapp 600.000 Menschen aus der gesamten Union mussten in den folgenden Jahren bei Aufräumarbeiten helfen. Bis heute leiden viele unter der Strahlenbelastung. Nicht nur der Norden der Ukraine, auf deren heutigem Territorium das Unglück geschah, wurde 1986 verstrahlt. Die radioaktive Wolke traf vor allem das benachbarte Weißrussland, den Westen Russlands, dann verteilte sie sich Richtung Skandinavien und Westeuropa.

Unmittelbar nach der Explosion kamen bei Lösch- und Rettungsarbeiten etwa 30 Kraftwerksmitarbeiter und Feuerwehrleute ums Leben. Wie viele Menschen insgesamt an den Folgen von Tschernobyl gestorben sind, ist bis heute umstritten. Experten gehen von einigen Zehntausend Todesfällen aus, die auf das Unglück zurückführbar sind. 30 Jahre später ist Tschernobyl in der unabhängigen Ukraine kaum noch ein Thema. Die mehr als 210.000 registrierten "Liquidatoren" machen vor allem dann auf sich aufmerksam, wenn es gilt, Invalidenrenten und Vergünstigungen zu verteidigen.

Doch Wirtschaftskrise, der Krieg im Osten und die Annexion der Schwarzmeerhalbinsel Krim durch Nachbar Russland beschäftigen die Ukraine mehr. Wegen des Konflikts im Bergbaugebiet Donbass ist Kohle knapper geworden, der Anteil der Atomenergie an der Stromproduktion ist auf über 50 Prozent gestiegen. Immer wieder gibt es Pläne für den Neubau von Reaktoren.

Dennoch ging die erste Reise des frischgebackenen Umweltministers Ostap Semerak vergangene Woche in die 30-Kilometer-Todeszone um die Reaktorruine. Er inspizierte den Bau der neuen Stahlhülle, die für die nächsten einhundert Jahre die Überreste des Kraftwerksblocks vor dem Eindringen von Wasser und dem Entweichen von Staub schützen soll. Der für geschätzte 2,1 Milliarden Euro errichtete Bogen wird den Plänen nach im kommenden Jahr über den alten einsturzgefährdeten Beton-Sarkophag geschoben. Er war damals in aller Eile errichtet worden und sollte eigentlich nur für 20 Jahre Schutz gewähren.

Ausstieg aus der Atomenergie in Deutschland

In Deutschland und anderen Ländern sorgte die unsichtbare Strahlung der Tschernobyl-Wolke vor 30 Jahren für große Angst und Unsicherheit. Kernkraftkritiker und die noch junge Ökobewegung erhielten Auftrieb. Als Reaktion richteten selbst konservative Regierungen Umweltministerien ein.

In Deutschland einigten sich die erste rot-grüne Bundesregierung und die Industrie im Jahr 2000 auf einen Atomausstieg. Schwarz-Gelb unter Kanzlerin Angela Merkel nahm den Ausstieg 2010 zurück, um ihn 2011 unter dem Schock von Fukushima wieder zu beschließen.

Bischof Hanke besorgt über Störfälle

Bischof Hanke sagt, er zucke immer wieder zusammen, wenn er von irgendwelchen Störfällen in Atommeilern höre. Auch das Kernkraftwerk in Templin habe schon gehörig von sich reden gemacht und er fürchte, dass die Technik einfach nicht in den Griff zu bekommen sei. "Irgendwann kann so etwas wie in Tschernobyl wieder passieren und großen Schaden zufügen", so der Eichstätter Bischof.

Wegen Tschernobyl legte Italien 1987 seine Kernkraftwerke still, Polen brach 1989 den Einstieg in die Atomkraft ab. Die Schweiz will ihre Reaktoren bis 2034 auslaufen lassen. Andere Länder wie Frankreich, Großbritannien, Russland und die USA halten an der Kernkraft fest. Der aufstrebende Wirtschaftsriese Indien betreibt schon viele Reaktoren, China will in großem Stil in die Kernkraft einsteigen. Japan steigt trotz Fukushima nicht ganz aus.

Der ukrainische Umweltminister Semerak kann dem verstrahlten Gebiet um das Kraftwerk sogar eine Hoffnung abgewinnen. "Die Ukraine ist ein Pionier bei der wissenschaftlichen Erforschung von Atomkatastrophen, daher sollte man diese Erfahrung nutzen, um weltweit führend bei Technik und Forschung in diesem Bereich zu werden", sagt er. Für Touristen ist das Gebiet inzwischen offen. 2015 besuchten knapp 15.000 Menschen die Zone.

Hanke ruft zu christlichem Lebensstil auf

Mit einem Wunsch wartet dagegen Bischoh Hanke auf. Er möchte dazu animieren, einen dezidiert christlichen Lebensstil zu entwickeln. "Der christliche Lebensstil war geprägt von der Bescheidenheit, ein Leben zu führen, dass die Grenzen, die Endlichkeit dieses Systems anerkennt. Wir verbrauchen schlichtweg zu viel Energie, zu viele Ressourcen. Wir leben auf Kosten der nachkommenden Generationen." Man dürfe nicht der Versuchung erliegen, sich so zu benehmen, als sei dieses System unendlich, als könnte man herausholen, was man nur herausholen möchte. Das funktioniere in den Augen Hankes nicht.

 

Quelle:
dpa , DR