Vor 20 Jahren begann die Luftbrücke von Sarajevo

Kaugummi und Pulver-Ei

Als serbische Einheiten im Zuge des Bosnien-Krieges am 2. Mai 1992 eine Blockade über den bosnisch-kroatischen Teil Sarajevos verhängten, waren Hunderttausende gefangen. Schon einen Monat später begannen die Vereinten Nationen mit ihrer in der Geschichte beispiellosen Hilfe.

Autor/in:
Katharina Ebel
 (DR)

"Innerhalb kürzester Zeit waren die Parks für Feuerholz gerodet, und auf jedem freien Platz versuchten die Menschen, etwas anzubauen", erzählt Ismar Nesiren. Acht Jahre alt war der Bosnier, als die gut vierjährige Belagerung Sarajevos durch die bosnischen Serben begann. "Geld wurde von einem Tag auf den anderen völlig wertlos. Nur Lebensmittel und Brennstoffe konnten als harte Währung genutzt werden." Für 380.000 Menschen sind die Ausfallstraßen gesperrt, auf den umliegenden Bergen posieren Panzer und Granatwerfer. Die Strom- und Wasserversorgung ist gekappt, auch Lebensmittel erreichen die Stadt nicht mehr.



"Wir hatten kaum etwas zu Essen. Mein Vater nahm 30 Kilo ab", erinnert sich der heute 28-Jährige. Wenn Ismar Nesiren den U2- Song "Miss Sarajevo" hört, katapultiert ihn das in jene Zeit der Belagerung zurück. "In der Stadt musste das Leben weitergehen, und "Miss Sarajevo" wurde gekürt. Die Models sahen alle aus, als wären sie magersüchtig. Dabei zeigte das nur den Allgemeinzustand der Bevölkerung." Am 3. Juli 1992, vor 20 Jahren, begannen die Vereinten Nationen, die notleidende Zivilbevölkerung aus der Luft zu versorgen. Die mehr als dreieinhalb Jahre, bis 9. Januar 1996, dauernde Luftbrücke ist die bis dato längste in der Geschichte.



Helfer in ständiger Lebensgefahr

Vom italienischen Ancona aus schaffen US-amerikanische, britische, deutsche, französische und kanadische Flieger fortan 126.000 Tonnen Lebensmittel, 14.000 Tonnen medizinische Hilfsgüter sowie Decken, Zelte, Planen und Gas- und Wasserrohre in die zerstörte Stadt. "Das war das erste Mal, dass ich Pulver-Ei sah", erinnert sich Ismar. Um die Verteilungspunkte für Nahrungsmittel zu erreichen, riskierten viele Menschen täglich, von Heckenschützen erschossen oder von Granaten getötet zu werden. Doch nicht nur die Wege zu den Ausgabeplätzen wurden zum lebensgefährlichen Spießrutenlauf für die Bewohner. Mehrfach starben Unschuldige bei Angriffen auf Märkte Sarajevos, während sie für Lebensmittel anstanden. "Der Nebel war unser bester Verbündeter gegen die Scharfschützen", erinnert sich Ismar. "Meine Familie hatte allerdings das Glück, nah an den Wasservergabestellen zu wohnen."



Doch nicht nur Bosnier, Serben und Kroaten lebten in ständiger Lebensgefahr. Auch die Besatzungen der Hilfsflieger setzten in diesem Konflikt mit jedem Einsatz ihr Leben auf Spiel. Die Größe der Hilfsgüter machte es unmöglich, sie einfach über Sarajevo abzuwerfen. Die Maschinen mussten auf dem Flughafen landen - der ständigen Gefahr ausgesetzt, von Scharfschützen aus den Häuserruinen abgeschossen zu werden. Als eine italienische Maschine zwischen die Fronten von Serben und Kroaten gerät und abstürzt, stellen die Italiener ihre Hilfsflüge ein.



2011: Luftbrücke am Horn von Afrika

Piloten aus Deutschland reagieren, indem sie versuchen, ihre "Transall"-Flieger so lange wie möglich außerhalb der Reichweite von Handfeuerwaffen zu halten. Aus 6.000 Metern Höhe fliegen sie fast im Sturzflug den Flughafen an, um die Maschine dann kurz vor dem Boden abzufangen und steil auf der Landebahn aufzusetzen - ein Manöver, das als "Sarajevo-Landung" berühmt wird.



Im Spanischen Bürgerkrieg und während der Schlacht um Stalingrad waren Luftbrücken zur gängigen militärischen Taktik zur Versorgung der eigenen Truppen geworden. 1948 nutzen die Alliierten sogenannte Rosinenbomber, um Westberlin aus der Luft zu versorgen und die Stadt nicht den Sowjets überlassen zu müssen. Wenn Ismar Nesiren in seinen Erinnerungen kramt, ähneln die Bilder, die er zutage fördert, sehr an die Erzählungen der Menschen aus Berlin: "Die Soldaten kamen in weißen Panzern, verteilten Schokolade und Kaugummi. Und ich sah das erste Mal einen Schwarzen."



Zuletzt bewahrte die Luftbrücke der UNO 2011 die Menschen am Horn von Afrika vor dem Hungertod. Ob wohl auch diese Kinder noch Jahre später über Fleisch in Dosen und Eier in Pulverform staunen werden?