Vor 175 Jahren begann das Eisenbahnzeitalter in Deutschland

"Wie ein schnaubender Stier"

Unter Jubel und Böllern begann vor 175 Jahren das Eisenbahnzeitalter in Deutschland. Mit der Eisenbahn wurden ganze Regionen erschlossen, sie hat Landstriche geprägt und die Gesellschaft verändert. Skeptische Stimmen gab es aus Kirchenkreisen.

Autor/in:
Anselm Verbeek
 (DR)

"Auf der eisernen Straße heran kam ein kohlschwarzes Wesen", wurde "immer größer und nahte mit mächtigem Schnauben und Pfustern und stieß aus dem Rachen gewaltigen Dampf aus." Wie ein aus der Märchenwelt entsprungener Drache schien dem Waldbauernbub Peter Rosegger eine Dampflokomotive. Da war er nicht allein. Als am 7. Dezember 1835 zwischen Nürnberg und Fürth die erste Lok fuhr, verglich ein Reporter die rußigen Dampfwolken "mit dem schnaubenden Ausatmen eines riesenhaften Stieres".



Den Lokführer nannte der Zeitungsmann einen kühnen "Wagenlenker". Er war Engländer genauso wie das dreiachsige Dampfross aus dem Stall von George Stephenson, Marktführer von mobilen Dampfmaschinen. Der Stolz der Nürnberger und Fürther Bürger, der "Adler", war bereits die 118. Lokomotive aus den Werkshallen von Newcastle upon Tyne.



William Wilson, der junge "Dampfwagenführer", der in Frack und Zylinder das Wunderwerk der Technik bändigte, hatte allen Grund dunkle Kleidung zu tragen. Denn zu den Nebenwirkungen der Dampfrösser gehörte ein Regen von Ruß, der auch auf die Fahrgäste niederging. Ausgenommen waren die wenigen Herrschaften der 1. Klasse, deren kutschenartig geschlossener Wagen gewissen Schutz bot. Bei Probefahrten spie der "Adler", mit billigerer Holzkohle befeuert, einen Funkenflug aus, der Löcher in die Kleider brannte. Wilson hatte keine Probleme, den Sonntagsstaat zu erneuern; als Verkehrspionier wurde er fürstlich entlohnt.



"Deutschlands erste Eisenbahn mit Dampfkraft" wuchs zum Erfolgsrenner auf der nur sechs Kilometer langen Strecke. Täglich lief zweimal die kostbare Adlerlok, ergänzt durch neun pferdebespannte Zugfahrten, um die teure Gleisanlage auf englischer Spurweite optimal zu nutzen; statt auf Holzschwellen waren die Schienen auf Granitblöcke montiert, die zuvor mühselig in die aufgeschotterte Erde eingebettet wurden.



Die Bauarbeiten zogen einigen Bürgerzorn auf sich. Die einen fühlten sich in ihrer biedermeierlichen Ruhe gestört, andere bangten um Arbeitsplätze des vergehenden Kutschenzeitalters: Fuhrleute und Postillone, aber auch mittelbar betroffene Berufsgruppen wie Wirte, die weniger Kundschaft wegen der kürzeren Reisezeit erwarteten. Bürgerinitiativen warnten vor der Beschleunigung des Lebens: Das rasende Tempo - der Adler stampfte im Normalbetrieb mit bis zu 30 Kilometern über die Gleise - werde "unfehlbar eine Gehirnkrankheit, eine besondere Art des Delirium Furiosum" verursachen.



Skeptische Stimmen gab es auch aus Kirchenkreisen. So mahnte der Publizist und Laientheologe Joseph Görres vor kritikloser Technikakzeptanz: "Flögen Dampfwagen zu Tausenden" durch Deutschland, "was hülfe ihm alles, hätte es in dem klappernden Mechanismus die innewohnende Seele verloren?" Möglicherweise war das mit ein Grund, dass manche Klöster wie etwa Andechs auf eine Zuganbindung selbst in späteren Zeiten noch verzichteten.



Die Bürger der fränkischen Zwillingsstädte tauften ihre Linie dagegen stolz "Ludwigs-Eisenbahn", um das Interesse ihres Königs zu wecken. Ludwig I. aber entschied sich nach Vorführung einer Versuchseisenbahn im Nymphenburger Schlosspark gegen eine "eiserne Kunststraße", wie sie Friedrich List oder der Industrielle Friedrich Harkort propagierten.



Der Monarch ließ die Wasserwege ausbauen, einen bald defizitären Kanal zwischen Bamberg und Kelheim, um Main und Donau zu verbinden. Der Verkehr wurde aber nicht auf das Wasser, sondern auf die Schiene gelenkt. Schon in ihrem ersten Betriebsjahr beförderte die Privatbahn zwischen Nürnberg und Fürth an die 450.000 Personen.



1857 wurde die Originallok, weil technisch überholt, verkauft und ist seither verschollen. Im Nürnberger Verkehrsmuseum existieren zwei Nachbauten von 1935 und 1952. Die altere Version wurde bei einem Depotbrand 2005 stark beschädigt. Inzwischen aufwändig restauriert, kann der "Adler" heute wieder besichtigt werden.