Vor 100 Jahren starb Leo Tolstoi

Wachsende Zerrüttung

In einem Bahnwärterhäuschen des Städtchens Astapowo endete am 20. November 1910 das Leben eines der größten und populärsten Schriftsteller seiner Zeit. Leo Tolstoi erlag 83-jährig einer Lungenentzündung. Sein Sterben vollzog sich vor den Augen einer internationalen Öffentlichkeit. Tolstois letzte Tage waren ein weltweites Medienereignis.

Autor/in:
Peter Kohl
 (DR)

Für Schlagzeilen hatte zuvor schon die Flucht Tolstois von seinem Landsitz in Jasnaja Poljana gesorgt. In Begleitung seiner jüngsten Tochter Alexandra hatte der greise Dichter Reißaus genommen vor seiner Frau Sophia Andrejewna, mit der er 48 Jahre verheiratet war. 13 Kinder hatte sie ihm geboren. Und außerdem seine kaum entzifferbaren Texte in lesbare Manuskripte verwandelt.



In den ersten harmonischen Ehejahren waren die Romane entstanden, die Tolstois Weltruhm begründeten, "Krieg und Frieden" (1868/69), das große Roman-Panorama über die russische Gesellschaft in der Zeit der napoleonischen Kriege, und "Anna Karenina" (1877/78), ein Sittenbild des russischen Adels, in dessen Mittelpunkt eine Ehebrecherin steht, die am Ende Selbstmord begeht.



Die Entfremdung zwischen den Eheleuten begann, als Tolstoi kurz vor seinem 50. Lebensjahr von einer großen Lebensmüdigkeit befallen wurde. Seine privilegierte Stellung, in die er am 9. September 1828 als Sohn des Grafen Nikolai Tolstoi hineingeboren wurde, erschien ihm auf einmal fragwürdig. Er, der in höchsten Gesellschaftskreisen verkehrte, verlagerte seinen Lebensmittelpunkt nach Jasnaja Poljana, er entsagte dem Luxusleben, kleidete sich in eine schlichte Bauernkutte, pflügte, hackte Holz, und propagierte eine vegetarische und in jeder Hinsicht abstinente Lebensweise.



Auf Distanz zu den Glaubenssätzen der Kirchen

Nach ausführlicher Beschäftigung mit religiösen Fragen ging er auf Distanz zu den Glaubenssätzen der Kirchen. Richtschnur menschlichen Handelns sollten allein die Worte und das Wirken von Jesus sein. Im Mittelpunkt seines privaten Glaubensbekenntnisses standen Nächstenliebe und Gewaltlosigkeit. Damit wurde er zum Vorbild vor allem für junge Leute. Doch je mehr Anhänger er um sich scharte, desto mehr ging er auf Distanz zur Familie, die auf die Annehmlichkeiten des adeligen Daseins und der Stadtwohnung in Moskau nicht verzichten wollte.



Tolstois Wandel zum Lebensreformer lässt sich nicht so einfach als Ausdruck der "Midlife Crisis" eines privilegierten Lebemannes abtun, der schon in jungen Jahren mit seiner autobiografisch gefärbten Romantrilogie "Kindheit" (1852), "Knabenalter" (1854) und "Jugend" (1857) zu literarischem Ruhm gekommen war. Die Armut der ländlichen Bevölkerung, die krassen sozialen Unterschiede im Zarenreich hatten ihn schon zuvor tief erschüttert. So versuchte er zunächst, das Leben der von ihm geerbten Leibeigenen auf seinem Landgut zu verbessern, die allerdings eine Entlassung in die Freiheit dankend ablehnten. Das Experiment einer Schule für Bauernkinder, die ohne Zwang und Strafen auskommen sollte, wurde zwar nach zwei Jahren von der zaristischen Verwaltung beendet, blieb aber Initialzündung für mehrere pädagogische Reformbewegungen.



Gegen Ende nimmt sein Leben selbst romanhafte Züge an

Die zunehmende Zerrüttung des Verhältnisses zu seiner Frau und den mittlerweile erwachsenen Kindern eskalierte, als der Tolstoi-Anhänger Wladimir Tschertkoff den Dichter überredete, sein ganzes Erbe und die Rechte an seinen Büchern dem russischen Volk zu vermachen. Seine Frau, zermürbt durch die Launen ihres Mannes und durch die Pilgerschar von Tolstojanern, die sich in der Umgebung von Jasnaja Poljana breit machten, steigerte sich in hysterische Anfällen und unternahm einen Selbstmordversuch.



Um der unerträglich gewordenen Situation zu entkommen, setzte sich Tolstoi mit Tochter und seinem Arzt in einen Zug in Richtung Süden, kam aber nur bis in das nicht weit entfernte Astapowo, eine Ortschaft, die heute seinen Namen trägt. Es war nicht nur die Endstation dieser Reise, sondern seines langen, produktiven Lebens, das gegen Ende selbst romanhafte Züge angenommen hatte.