Unterwegs auf der "Via Baltica" durch Norddeutschland

Ein ganz besonderer Jakobsweg

Die "Via Baltica" ist anders. Anders als die spanischen Jakobswege, die heute von Pilgern überlaufen sind. Der nördlichste Weg der Ost-West-Verbindungen auf dem deutschen Jakobsweg ist das genaue Gegenteil: ein Weg der Ruhe, der Besinnung, fast ein Weg der Einsamkeit. Ein Weg, auf dem der Pilger - besser gesagt die Pilgerin - zu sich selbst finden kann. Denn auf den rund 500 Kilometern zwischen Usedom und Bremen pilgern überwiegend Frauen.

Autor/in:
Horst-Dieter Czembor
Via Baltica: Immer Richtung Santiago (KNA)
Via Baltica: Immer Richtung Santiago / ( KNA )

Wie Marion und Marika aus Menden. Marika hat Pilgererfahrung und war schon in Santiago. Beide haben sich ab Usedom ziemlich genau 444 Kilometer vorgenommen. "Die kleine katholische Kirche auf der Großen Freiheit auf St. Pauli ist unser Ziel", erklärt Marika. Doch bis dahin ist es noch weit. Abenteuer, Gespräche, Erlebnisse und Unvorhergesehenes - all das soll die beiden erwarten. Ob auch Begegnungen dabei sind? Marion und Marika wollen sich überraschen lassen...



"Sechs Frauen, zwölf Stöcke, ein Ziel: In drei Wochen werden wir zusammen genau 366 Jahre", lesen sie acht Tage nach dem Start im Pilgergästebuch des SOS-Dorf-Gemeinschaftshauses in Grimmen. "Das hat Sigrid geschrieben, eine frühere Mathelehrerin, das merkt man doch, oder?", erklärt Marlies, Familienoberhaupt der Wohngruppe, die die Pilgerinnen aus Menden beherbergt. Sie weiß, dass eines beim Pilgern ganz wichtig ist: das Loslassen des Alltags und auch der Vergangenheit...



Warum überwiegend weibliche Pilger auf der "Via Baltica" ihr Pilgerheil suchen? "Bestimmt, weil es hier flach ist, keine Berge und saubere Luft, den Männern ist es bestimmt zu einfach", mutmaßt Marika. "Aber mit Gepäck wird für mich auch die kleinste Anhöhe zu einem alpinen Abenteuer", hält Marion dagegen und macht ihre Freundin auf die gewaltigen Baumruinen aufmerksam, die den Pilgerweg an vielen Stellen säumen. "Schau Dir auch die Himmelsaugen an, diese runden kleinen Seen, das sind Überbleibsel der letzten Eiszeit, steht im Pilgerführer", doziert Marika, im früheren Leben Lehrerin. Mit den Augen sucht sie schon die nächste Findlingsgruppe am Wege für eine kurze Rast.



Auf sich selbst zurückgeworfen

Die beiden müssen wachsam sein, damit sie kein Pilgerzeichen - die gelbe Muschel auf blauem Grund - verpassen. Trotzdem kommt es vor, dass sie sich verlaufen, wenn Zeichen fehlen. In der letzten Herberge hat ihnen die Pastorin erzählt, dass wenige Tage zuvor eine Pilgerin den Weg abgebrochen hat: Er war ihr zu einsam ohne Mitpilger, ohne abendliches gemeinsames Kochen und Essen, ohne Pilgergemeinschaft. "Die konnte mit sich selbst nichts anfangen", war der Kommentar der beiden Mendenerinnen.



In Alt Bukow fällt ihnen ein Lied ein, das DDR-Liedermacher Wolf Biermann vor über 40 Jahren gesungen hat: Von der "Bukower Süßkirschenzeit", bei der die Bäume und die Pflückerinnen, die der Landwirtschaftlichen Produktions-Genossenschaft gehören, durch Zettel entsprechend markiert sind und besonders in der Nacht streng bewacht werden. Die alte Kirche in dem 550-Seelen-Dorf beeindruckt derweil durch ihre einfache Art. Einen völlig anderen Eindruck hinterlässt das gotische Münster in Bad Doberan, das auf den Wunsch seiner Bewunderer hin auf die Liste der Weltkulturerbstücke der UNO gesetzt werden soll - und dabei gute Aussicht auf Erfolg hat.



Der Windmüller von Neubukow wird den beiden Pilgerinnen in guter Erinnerung bleiben, denn er erlaubte ihnen - weil der eigentliche Jakobsweg völlig zugewachsen war - eine Abkürzung über das Mühlengrundstück, die sie durch einen Hohlweg "direkt ins Licht" führte. Der Windmüller erzählte den beiden auch, dass genau zwei Tage vor ihnen sogar ein Mann auf der "Via Baltica" pilgerte:

Hartmut, ein ehemaliger Jugendherbergsvater, gerade in Rente. Weil er nicht die nächsten fünf Monate - solange seine Ehefrau noch arbeitet - jeden Nachmittag für Kaffee und Kuchen sorgen wollte, machte er sich auf den Weg nach Santiago de Compostela.



In der Palinger Heide, zu DDR-Zeiten mit Minen und Stacheldraht gesichertes Niemandsland, ist das Ende des Pilgerweges auf ehemaligem DDR-Gebiet erreicht. "Es war interessant, erstmals die herrlichen Landschaften und auch die Besonderheiten Mecklenburgs zu sehen. Wir kommen wieder", sind sich die beiden Mendenerinnen einig, denn beim Pilgern ist "Sightseeing" nicht möglich.



Gemischte Gefühle

Bald haben sie den kleinen Bach erreicht, der vor über 20 Jahren die deutsch-deutsche Grenze markierte. Mit etwas gemischten Gefühlen überschreiten sie die schmale Holzbrücke auf westliches Gebiet in Schleswig-Holstein. "Ihr seid die ersten Pilger, mit denen wir seit Usedom reden können", empfangen die Mendenerinnen in Lübeck Gabi und Michael, die ihnen auf dem Platz vor der St. Jakobi-Kirche über den Weg laufen. "In der Herberge sind noch zwei Betten frei, wenn Ihr Euch beeilt", lacht das Pilgerpaar die beiden Freundinnen an.



Und es klappt: Beide erhalten Stempel in ihre Pilgerpässe und den Schlüssel für die Pilgerherberge auf der gegenüber liegenden Seite des Platzes. Und tatsächlich bekommen sie nach dem Auspacken der Rucksäcke all das, was sie auf der bisherigen Strecke so vermisst

haben: tiefgehende Gespräche mit den beiden Mitpilgern, ein gemeinsames Kocherlebnis und anschließend ein genüssliches Abendbrot.



Und sie erfahren dabei die Geschichte von Gabi und Michael, die sich ein weit entferntes Ziel gesteckt haben: Santiago de Compostela.

"Wir sind von zu Hause in Neustadt in Schleswig-Holstein aufgebrochen, nur mit dem Nötigsten in den Rucksäcken, aber mit dem festen Willen, jeden Meter des langen Weges auszukosten", lacht Gabi, die wie Ehemann Michael bereits in Santiago war. "Aber unsere diesjährige Pilgerwanderung wird die Krönung sein, zumal die "Via Baltica" und der sich anschließende nordrhein-westfälische Jakobsweg über Osnabrück, Münster, Dortmund und Köln durch die Eifel nach Trier für uns völliges Neuland sind", fügt Michael hinzu. Er hat die einzelnen Etappen in seinem "i-pod" gespeichert, braucht deswegen keine Pilgerführer und keine Wanderkarten. "Das ist zwar ein Stilbruch, spart aber Unmengen an Gewicht", ist Gabi sicher, die so einen Teil ihres notwendigen Gepäcks auf Michaels Rücken verlagern konnte.



Das Kloster Nütschau ist die nächste Station. Hier nehmen die vier Pilger auf Einladung der 17 Benediktiner-Mönche am Abendgebet in der Kapelle teil. Einen Tag später gibt es in Hamburg in der St. Jacobi-Kirche einen Pilgerstempel, ehe Marika und Marion weiter nach St. Pauli laufen. In der Großen Freiheit lassen sie sich den allerletzten Sichtvermerk in ihre Pilgerausweise stempeln.



Mindestens genauso wichtig waren den beiden Pilgerinnen aber die Eindrücke und Erlebnisse auf der Strecke. "Ich habe jeden Meter des Weges bewusst erlebt", bilanziert Marika. Es sei "beeindruckend anders als auf den spanischen Wegen" gewesen. Marikas Bilanz im Zug nach Hause: "Wer die Einsamkeit liebt und mit sich selbst etwas anfangen kann, für den ist die Via Baltica genau das Richtige".