Tafeln beklagen Ausgrenzung durch Armut in der Gesellschaft

"Unser Klientel ist ein Seismograf der Gesellschaft"

Eingeführt von den Vereinten Nationen macht der Welttag der sozialen Gerechtigkeit auf die Güter-Verteilung aufmerksam. Täglich bekommen die Tafeln vor Augen geführt, wer von Armut betroffen ist.

Die Zahl der Menschen, die zur Tafel kommen, hat sich in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt (dpa)
Die Zahl der Menschen, die zur Tafel kommen, hat sich in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt / ( dpa )

Was können Politik und Gesellschaft da tun?

DOMRADIO.DE: Die Zahl der Menschen, die sich auf Ihr Angebot verlassen, hat sich in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt. Im Jahr 2005 sind 500.000 Menschen von den Tafeln regelmäßig unterstützt worden. Im Jahr 2007 stieg die Zahl der Bedürftigen Ihren Angaben zufolge auf 700.000 Personen an. Seit 2014 liegt die Zahl der Tafel-Kundinnen und -Kunden bei etwa 1,5 Millionen Menschen. Wenn Sie die Frage nach sozialer Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit hören, wie erleben Sie das in Ihrer Praxis?

Jochen Brühl (Vorsitzender des Bundesverbandes Tafel Deutschland e.V.): Ich glaube, das hat immer etwas mit Ausgrenzung zu tun. Ob wir es wollen oder nicht, unsere Gesellschaft ist gespalten, es gibt eine Kluft zwischen Arm und Reich. 2005 hatten wir 500.000 Menschen, die regelmäßig zu den Tafeln gekommen sind. Inzwischen sind es 1,5 Millionen Menschen. Uns hat sehr besorgt, dass darunter 500.000 Kinder und Jugendliche sind.

Bei den Tafel geht es ja nicht nur um die Lebensmittelausgabe. Auch die Lebensmittelrettung ist ein großes Thema. Bei uns zeigt sich ebenso, dass Armut vereinsamen lässt. Deswegen sind Tafeln natürlich auch Orte der Begegnung. In einer reichen Gesellschaft arm zu sein, bedeutet auch immer Ausgrenzung.

DOMRADIO.DE: Ändert sich eigentlich auch das Klientel der Leute, die von den Tafeln bedient werden?

Brühl: Das Klientel ist immer ein Seismograf unserer gesellschaftlichen Entwicklung. Im Moment erleben wir, dass es einen großen Zuwachs von Rentnerinnen und Rentner gibt. Ebenso von Menschen, die arbeiten, aber das Geld trotzdem nicht reicht. Unter den 14 Millionen Menschen in Deutschland, die von Armut betroffen oder bedroht sind, ist ein großer Anteil arbeitslos, alleinerziehend oder in Rente. Betroffen sind zusätzlich auch die kinderreichen Familien, sowie Menschen mit Migrationshintergrund. Ich denke, die Tafeln sind ein guter Seismograf, um festzustellen, in welchen Gruppen in unserer Gesellschaft das Thema besonders verankert ist.

DOMRADIO.DE: Warum geht das auch bei uns in Deutschland so extrem auseinander?

Brühl: Nicht nur Reichtum vererbt sich, sondern auch Armut vererbt sich. Kinder zu haben, war früher ein Reichtum, heute ist es ein Armutsrisiko. Alleinerziehung und Trennung – demnach auch viele Ehen, die nicht weiterlaufen – sind vor allen Dingen bei Frauen ein großes Thema, in die Verarmung zu gehen. Das große Thema ist natürlich das Thema Rente, genauer die Angst vor der Rente. Ich erzähle immer wieder zur Veranschaulichung das Beispiel der 75-Jährigen, die an vier Stellen putzt und trotzdem zur Tafel kommt, um sich Dinge leisten zu können. Das ist schon ein entscheidender Punkt.

DOMRADIO.DE: Es gibt eine Studie der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2011, die besagt, dass sich Deutschland international ungefähr im Mittelfeld der sozialen Gerechtigkeit befinde. Überrascht Sie das?

Brühl: Das bestätigt nur unsere Arbeit. Wir bekommen mit, dass für diese oder andere Sachen Lobbyisten am Start sind. Aber das Thema Armut ist einfach nicht so attraktiv. Wir merken schon, dass arme Menschen sich für andere Sachen nicht mehr so interessieren, weil sie nicht die Zeit dafür haben, sondern sich um ihr Auskommen sorgen müssen.

Armut heißt eben, nicht mehr mit den Kindern ins Schwimmbad gehen zu können, nicht in den Urlaub zu fahren, nicht zum Friseur zu gehen. Der Kinobesuch ist überhaupt nicht drin. Das führt insgesamt zu einer Ausgrenzung. Das finden wir sehr schwierig. Ein neues und auch wichtiges Thema ist die Einsamkeit und Armut. Sich in einem reichen Land wie Deutschland oder einer reichen Stadt wie München oder Stuttgart zu den Armen zu zählen, führt natürlich dazu, dass man sich an vielen Dingen nicht mehr beteiligen kann. Das ist erschreckend.

DOMRADIO.DE: Was muss sich auf politischer Ebene ändern, damit wir dieses Problem bekämpfen können?

Brühl: Die Tafeln sind natürlich erstmal eine Bürgerbewegung, die die Politik aber nicht aus der Verantwortlichkeit lässt. Die Rahmenbedingungen müssen stimmen. Das heißt also: ein entsprechend angemessener Mindestlohn, zukunftsfeste Renten, eine verbesserte Integration, eine Installation eines Armutsbeauftragten, der all diese Dinge komprimiert und sammelt. Es bedarf einer Verbesserung der Angebote für Alleinerziehende und kinderreiche Familien sowie Bildungsinitiativen, dass Menschen mit Kindern in Armutsfamilien auch den Weg in unser Bildungssystem finden und nicht automatisch in Hauptschulen landen.

Ich glaube, das ist ganz wichtig, dass wir den Menschen, der durch Armut ausgegrenzt ist, wieder in die Mitte der Gesellschaft holen. Aber auch die Gesellschaft hat eine Verantwortung, nicht nur die Politik. Wir haben über 15 Millionen Ehrenamtliche in Deutschland, jeder einzelne kann viele Organisationen unterstützen. Die Politik muss die Rahmenbedingungen schaffen, aber auch Organisationen wie die Tafeln müssen endlich von der Gesellschaft entsprechend gewürdigt und angenommen werden. Es ist ein gemeinsames Handeln erforderlich, um dieses Thema soziale Gerechtigkeit jetzt auch wirklich realisieren zu können.

Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.

 

Jochen Brühl / © Oliver Mehlis (dpa)
Jochen Brühl / © Oliver Mehlis ( dpa )
Quelle:
DR
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