Gastkommentar zum Ergebnis der Bundestagswahl 2021

Ungemütliche Zeiten für Christen?

Deutschland hat gewählt, mit einem Ergebnis, dass sich christlich-konservative Wählergruppen sicher anders gewünscht hätten. Dabei hätte es so einfach sein können, hätte die Union im Wahlkampf nicht viele Fehler gemacht, so Andreas Püttmann.

Sonnenuntergang über dem Reichstagsgebäude in Berlin / © rajasen (shutterstock)
Sonnenuntergang über dem Reichstagsgebäude in Berlin / © rajasen ( shutterstock )

Wahrscheinlich wurde die Bundestagswahl 2021 nicht am 26. September entschieden, sondern am 19. April. Stellen wir uns vor, die Grünen hätten an diesem Tag mehr auf Regierungserfahrung und Ausstrahlung in die Unionsklientel hinein gesetzt, statt auf Vorrang für weibliche Kandidaturen. Sie hätte also den ruhigen, bedächtigen Robert Habeck, 2012 bis 2018 Vize-Ministerpräsident Schleswig-Holsteins, als Kanzler-Angebot nominiert. Und am Abend jenes Tages hätten Armin Laschet, Wolfgang Schäuble, Volker Bouffier und andere im CDU-Bundesvorstand die Klugheit, Demut und Fairness besessen, das glasklare Votum der Unionsanhänger für Markus Söder als Kanzlerkandidaten (72% zu 17%!) zu respektieren. Dann stünden wir jetzt wohl vor einer schwarz-grünen Regierungsbildung unter dem ersten Bundeskanzler aus dem großen Bundesland Bayern. Für einen Wahlkampf mit dem evangelischen Franken, der in seiner Aschermittwochsrede warnte: "Merkel-Stimmen gibt es nur mit Merkel-Politik!", ermittelten seriöse Umfragen weit bessere CDU/CSU-Ergebnisse als für den angeblichen "Merkelianer" Armin Laschet. In der jüngsten Kanzler-Direktwahl-Umfrage mit Söder kam dieser auf 39, Scholz auf 22 Prozent.

Ausgerechnet Laschet, im Januar von Merkels Anhängern gegen Merz zum Parteivorsitzenden gewählt, ging in der Pandemie auf Distanz zur Kanzlerin, fing sich eine Rüge von ihr ein, rief eine "neue Zeit" nach ihr aus, erhob ihren Erzgegner Merz quasi zum Vize-Kandidaten und ließ ihren Erzgegner Maaßen widerspruchslos von Karl-Josef Laumann ins legitime "CDU-Spektrum" einsortieren und von Jens Spahn zur Wahl empfehlen. Gottlob fiel er in Thüringen durch. Dass der Ex-Aufsichtsratschef von "Blackrock" und der radikalisierte Ex-Verfassungsschutz-Chef rote Tücher für die Wähler-Mitte sind, focht Laschet nicht an.

Der in Düsseldorf FDP-getriebene CDU-Chef versäumte es, den christlich-sozialen Flügel in seinem viel zu spät vorgestellten Team stark zu repräsentieren. Ein umso fataleres Versäumnis, als sich "soziale Gerechtigkeit" in Umfragen als wichtigstes Kriterium für die eigene Wahlentscheidung entpuppte. Die Union aber stand mit ihrer Wirtschaftsnähe zunehmend wie eine größere zweite FDP da, zu allem Überfluss auch noch angekränkelt durch einen virulenten rechten Rand, vor allem in den östlichen Ländern. Und zwar ohne dass ihre (rechts)konservativen Identifikationsangebote nennenswert AfD- und FDP-Wähler zur Union herüberziehen konnten: Laschets "Running mate" Merz, die vermeintliche Geheimwaffe an der rechten Flanke, zündete nicht; die tatsächliche Söder, gerade auch vom Osten gewünscht, hatte die CDU-Spitze verworfen.

Hinter vorgehaltener Hand wurde Bayerns Ministerpräsident von CDU-Funktionären im Westen als charakterlos verschrien und von ihren PR-Helfern im Netz zu einer Art deutschem Trump oder Orban und zum potenziellen CDU-Zerstörer aufgeblasen, den es unbedingt zu verhindern gelte. Während man Söder wegen jedes Grummelns aus München mangelnde Fairness vorwarf, übte die CDU Wortbruch, indem sie Laschets Versprechen, der mit den besseren Chancen solle Kanzlerkandidat werden, in grotesker Weise zugunsten des unbeliebteren Kandidaten auslegte.

Wo bleibt Laschets Demut?

Von einem dezidiert christlichen Politiker wie Laschet erwartet man die Demut, seinen Ehrgeiz zügeln und um des gemeinsamen Erfolgs willen zurückstellen zu können. Stattdessen wieselte sich der Aachener dank mächtiger Fürsprecher in die Kanzlerkandidatur, gegen starke Bedenken im eigenen Parteivorstand, gegen die Schwesterpartei, gegen die offenkundige Fraktionsmehrheit (eine Abstimmung wurde unterbunden), gegen die überwältigende Mehrheit der Unions-Anhänger und der Bevölkerung.

Wie konnte er ernsthaft glauben, damit durchzukommen? Artikel 3 des Rheinischen "Jrundjesetzes": "Et hätt noch emmer joot jejange" ist nicht dazu gedacht, Tollkühnheit zu legitimieren. In der Demokratie des 21. Jahrhunderts wird nicht einfach von oben nach unten durchgestellt in der Hoffnung, dass die Wähler sich schon fügen werden.

Die erratische Kandidatenwahl in der kommunikativen Vorstandsblase demotivierte große Teile der wahlkämpfenden Basis und wurde der Partei von manchen Stammwählern gar nicht mehr verziehen. Die einige Wochen nach der Entscheidung anscheinend erreichte Konsolidierung der Stimmung mittels Parteiloyalität erwies sich jedoch als labil, nachdem Laschet während einer Rede des Bundespräsidenten im Katastrophengebiet im Hintergrund geschwätzt und gelacht hatte.

Dies war aber nur der Tropfen, der das Fass des Unbehagens zum Überlaufen brachte. Hatte sich eine erste Welle der Merkel-Wähler zu den Grünen aufgemacht (am Ende waren es 830.000), so floh nun eine zweite Richtung SPD (fast 1,4 Millionen). Zuvor waren diese Wähler durch die Dominanz der ungeliebten Grünen als Kanzler-Alternative noch an die Union gebunden. Nach Baerbocks Fehlern konnte sich die Scholz-SPD, deren Wählerpotenzial größer war als das der Grünen, zur weniger "kulturfremden" Wahloption für verärgerte konservative, gerade auch ältere Wähler mausern. Und nun brachen die Dämme nicht nur im Flutgebiet.

So gesehen, hat die Kandidatinnen-Entscheidung der Grünen unbeabsichtigt doch noch eine Linksbewegung zugunsten von Rotgrün ermöglicht. Die kluge Entscheidung der SPD für einen mittigen Kandidaten mit viel Regierungserfahrung – vier Jahre sogar als Merkels Vize – konnte sich nun auszahlen. Die Sozialdemokratie mit ihrem überraschend diszipliniertem linkem Flügel entwand der Union die strategische Position in der Mitte des Parteiensystems, die die Lindner/Kubicki-FDP faktisch längst preisgegeben hatte. Sie stand zuletzt, wie einst die wirtschaftsnahe DVP, rechts des Zentrums, als parlamentarische Sitznachbarin der AfD. Obwohl selbst FDP-Anhänger öfter Scholz als Laschet im Kanzleramt wünschten, könnte eine Ampel-Regierung die Liberalen in eine Zerreißprobe führen, die denen von 1969 und 1982 wohl kaum nachstünde.

AfD vor der Spaltung?

Eine turbulente Zeit bis hin zur Spaltung dürfte auch der AfD bevorstehen. Während Rechtsextreme und Deutschnationale der Weimarer Republik noch in zwei Parteien existierten, kooperierten, koalierten und schließlich in der NSDAP verschmolzen, organisieren die heutigen Rechtspopulisten beide geistige Traditionen geschichtsvergessen gleich unter einem Dach. Wer dabei den Kürzeren zieht, ist damals wie heute offensichtlich.

Entscheidend für das Gefahrenpotenzial wird sein, ob die Union der Versuchung widersteht, eine Art Papen-Flügel als Brückenkopf der radikalen Rechten dauerhaft bei sich zu tolerieren. Eine Absage nur an die Organisation "Werteunion" reicht nicht. Ein Hans-Georg Maaßen ist für die Partei ebenso untragbar wie jene, die in Sachsen-Anhalt eine "Versöhnung des Sozialen mit dem Nationalen" propagierten und die Demokratie und ihre freien Medien immer wieder durch Diktaturvergleiche verleumden. Wenn solcher Scharfmacherei Platz eingeräumt wird in der Union, kann sie die Wiedergewinnung der Mitte auf Dauer vergessen.

Die Linkspartei, von verzweifelten konservativen Wahlkämpfern zur angeblich ebenso großen Gefahr hoch gejazzt, ist in Wirklichkeit nur noch ein Schatten ihrer selbst, im Vergleich zum rechten Rand eine halbe Portion. Ihre Wähler sind laut Umfragen weniger systemfeindlich als die der AfD. Doch der Russland-treue, kommunistische Flügel (eigentlich ein Widerspruch in sich, denn Putin ist Pate der extremen Rechten in Europa) macht die Partei im Bund unbrauchbar für jede Koalition. Ein Höllenritt mit der sozialistischen Trümmertruppe geht nun auch rechnerisch nicht.

Jamaika oder Ampel?

Die spannende Frage ist jetzt, ob sich eher die Grünen zu "Jamaika" oder die FDP zur "Ampel" bewegen lassen. Umfragen zeigen, dass die Grünen-Wähler eine "bürgerliche" Koalition stärker ablehnen als die FDP-Klientel eine sozialliberale. Hinzu kommt, dass die Deutschen in der Kanzlerfrage klar und stabil gegen Laschet und für Scholz optierten. Sie wünschen sich auch mit Abstand häufiger eine SPD-geführte Regierung (55%) als eine Unions-geführte (35%). Gegen diese Stimmung dürfte es den Liberalen schwer fallen, ein Jamaika-Bündnis durchzusetzen. Für die Grünen könnte es verheerend wirken. Sie verlören eine ganze Generation klimasensibler Jungwähler.

Insofern ist eine Koalition der drei Sieger (SPD +5,4, Grüne +6,0, FDP +0,8) wahrscheinlicher als ein Weiterwursteln unter der drastisch abgestraften Union (-8,9%) mit ihrem höchst unbeliebten Kandidaten, den in der Direktwahl-Frage nur 13 Prozent als Kanzler wünschten. Sollten sich die ungleichen Verhandlungspartner total verhaken, wäre theoretisch auch eine neue Große Koalition, diesmal unter Führung der SPD möglich. Dies werden beide Seiten jedoch zu vermeiden suchen. Auch hat die mit heruntergezogene CSU (31,7% in Bayern) kein Interesse daran, ihre nächste Landtagswahl 2023 aus solch einer Konstellation im Bund heraus zu bestreiten. Da wäre die Oppositionsrolle im Bund wesentlich erfolgversprechender.

Aus christlicher Sicht drohten mit einer links-liberalen Ampel-Koalition ungemütlichere Zeiten, sowohl in Fragen des Lebensschutzes, der Bioethik und Familienformen-Politik als auch hinsichtlich kirchlicher Eigenbelange wie der Staatsleistungen, des kirchlichen Arbeitsrechts oder der Karfreitagsruhe. Aber auch die Union verlor in ihrem Wahlprogramm kein Wort mehr über den Schutz ungeborenen Lebens und zeigte sich zuletzt in Bayern für eine (wenn auch vorsichtige) Lockerung des Sonntagsschutzes offen.

In der letzten CDU-Mitgliederstudie 2017 sahen 92 Prozent der Mitglieder ihre Partei als "wirtschaftsnah", 75 Prozent als "bürgernah". Der Anteil der Mitglieder ohne Konfession stieg seit 1974 von 5 auf mindestens 20 Prozent. Von den Mitgliedern unter 30 Jahren ist nur noch ein Viertel den Kirchen "stark verbunden", genauso viele "überhaupt nicht" (70+: 4%); schon jeder Vierte sieht das C als verzichtbares "Relikt aus alten Zeiten".

Das hat Konsequenzen, nicht nur in der Flüchtlings-, Sozial- und Pandemiepolitik. Auch habituell ist das "C" im zügellosen und egozentrischen Auftritt mancher Funktionäre nicht mehr zu erkennen. Da sind korrupte Masken-Deals und Aserbaidschan-Connections, aber auch versäumte Rücktritte in Anstand nach krassen Fehlleistungen (Verkehrsminister Scheuer) oder in Würde nach klarer Abwahl (Laschet) vielleicht keine reinen Zufälle mehr. Dass die Entchristlichung Europas christliche Parteien unverändert ließe, war nie zu erwarten. Mehr Widerstand christlich-sozialen und christlich-liberalen Spitzenpersonals schon.

Wer AfD-Mimikry am rechten Flügel oder Versuchen, aus der CDU eine größere FDP zu machen, nicht kraftvoll entgegentritt, sondern sich wegduckt und laviert, der bereitet einem Wahlsieg liberaler und sozialdemokratischer Parteien den Weg. So ist es nun gekommen. Zeit für eine gründliche Gewissenserforschung und personelle Erneuerung in der Union.

Andreas Püttmann

Zum Autor: Dr. Andreas Püttmann ist Politikwissenschaftler und katholischer Publizist aus Bonn.


Dr. Andreas Püttmann (privat)
Dr. Andreas Püttmann / ( privat )
Quelle:
DR
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