UN-Flüchtlingswerk zur Tragödie auf Lampedusa

"Es muss möglich sein, eine solche Katastrophe zu verhindern"

Beim Kentern eines Flüchtlingsschiffes vor der Mittelmeerinsel Lampedusa sind bis zu 250 Menschen ums Leben gekommen. Das Schiff hatte rund 300 Menschen an Bord - darunter auch Frauen und Kleinkinder. Nur 51 Menschen überlebten. Die Flüchtlinge kamen aus Afrika. Stefan Telöken vom Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen berichtet im domradio.de-Interview über die Situation auf der Insel.

 (DR)

domradio.de: Wie ist denn im Moment die Lage auf Lampedusa? Wie muss man sich das Leben der Flüchtlinge auf Lampedusa vorstellen?

Stefan Telöken: Nun, im Moment ist die Lage nicht ganz so prekär wie noch letzte Woche. Damals lebten über 6.000 Menschen, vor allem Tunesier, Migranten, auf der Insel und warteten darauf, aufs Festland transportiert zu werden. Das waren sehr prekäre Umstände, denn auf der Insel gibt es lediglich ein Aufnahmezentrum und das bietet Platz für nur 850 Personen. Derzeit leben rund 1.500 Migranten und Flüchtlinge auf der Insel, und die Stimmung ist natürlich sehr gedrückt durch das schockierende Ereignis von gestern, den Untergang des Schiffes. Auf diesem Schiff waren ja nun nicht mehr Tunesier, sondern viele Flüchtlinge aus Libyen, viele auch aus Somalia und Eritrea, die zuvor Zuflucht in Libyen gesucht haben und nun versuchen, in Europa Schutz zu finden und, wie Sie bereits in der Anmoderation sagten, es steht ja zu befürchten, dass über 200 Menschen ihr Leben gelassen haben.



domradio.de: Trotzdem kommen immer mehr Flüchtlinge nach Lampedusa. Wie gehen denn die Bewohner dieser Insel mit der Situation um?

Telöken: Die Menschen - es gibt dort ja 5.000 Einwohner - waren in den letzten Wochen, als diese große Zahl der Boote ankam, natürlich betroffen, aber wer könnte das nicht verstehen, denn Lampedusa ist rund 20 km2 groß, und man kann sich vorstellen, was auf einer Insel los ist, wenn dort die Zahl der Migranten und Flüchtlinge größer ist als die Zahl der Einwohner. Es bleibt aus der Ferne sicher unverständlich, warum es solange gedauert hat, die Menschen, die nach Lampedusa gekommen sind, weiter aufs Festland und nach Sizilien zu transportieren. Dieser Stau, der sich dort gebildet hat, hat natürlich auch die Atmosphäre auf der Insel geprägt.



domradio.de: Vor allem weil vor wenigen Tagen ja noch Ministerpräsident Berlusconi die Insel besucht und angekündigt hat, dass die Insel in spätestens 60 Stunden nur noch von Lampedusanern bewohnt sein wird. Was hat sich denn seit dem geändert?

Telöken: Wie gesagt: Es sind inzwischen Tausende von Menschen aufs Festland gebracht worden, es sind ja verschiedene Aufnahmelager in Italien eingerichtet worden. In den letzten Wochen seit Mitte Januar sind über 20.000 Menschen in Lampedusa angekommen. Wir haben es jetzt noch mit 1.500 Menschen zu tun. Wir wissen aber nicht, was die Zukunft bringt. Und im Augenblick haben wir ja eine Situation, dass es eben nicht mehr "nur" Tunesier sind, die auf der Suche nach Arbeit versuchen, nach Europa zu kommen, sondern es sind immer mehr Flüchtlinge aus Libyen, die direkt aus dem dortigen Bürgerkrieg kommen. Das sind nicht unbedingt Libyer, aber Flüchtlinge aus anderen Staaten, die Schutz brauchen. Ihre Aufnahme in Europa muss gewährt werden.



domradio.de: Was kann Italien jetzt tun, und was kann Europa tun, um dieses Problem zu lösen?

Telöken: Es braucht eine sehr differenzierte Betrachtungsweise und einen differenzierten Ansatz. Es handelt sich um komplexe Bevölkerungsbewegungen, wir haben es derzeit noch zu tun mit Migranten aus Tunesien, also Menschen, die von sich aus sagen, wir sind keine Flüchtlinge, wir suchen kein Asyl, wir brauchen Arbeit, wir brauchen Perspektive, wir brauchen Jobs. Und hier ist sicher der Ansatz in Tunesien selbst zu suchen, d.h. dem politischen Aufbruch muss eben auch der ökonomische Aufbruch folgen. Es müssen Arbeitsplätze geschaffen werden, und die EU ist gefordert, sich hier einzusetzen. Aber was die Flucht aus Libyen angeht, also die Menschen die vor diesem Bürgerkrieg flüchten, da gilt der erste Grundsatz: Die Grenzen müssen offen bleiben; es müssen zum zweiten Wege gefunden werden, dass sich solche Katastrophen wie gestern nicht wiederholen, dazu bedarf es einer besseren Koordination auch der NATO und der Schiffe, die in diesem Seegebiet verkehren. Denn das Gebiet ist ja nicht so groß. Es muss möglich sein, eine solche Katastrophe zu verhindern. Und wir brauchen- und das ist eine nachdrückliche Aufforderung auch vom UNHCR und des Flüchtlingskommissars António Guterres - wir brauchen Aufnahmeplätze für Flüchtlinge in Europa, Aufnahmeplätze für Zufluchtsuchende aus Somalia, Eritrea, Sudan und Äthiopien, die sich derzeit in Tunesien und Ägypten aufhalten, die dort nicht bleiben können, die nicht nach Libyen zurück können, die aber auch nicht in ihre Heimat zurückkehren können. Und hier bedarf es einer konzertierten Aktion, um diese Menschen in Europa und anderswo aufzunehmen.



Interview: Simone Bredel