Kinder in Lumpen gehüllt, manche gingen barfuß durch den Schnee. Durch den Hunger waren ihre Körper zusammengeschrumpft. "Auch von ihnen ist nur Asche geblieben", sagte die Überlebende Tova Friedman 80 Jahre nach der Befreiung überlebender Häftlinge des NS-Konzentrationslagers Auschwitz. "Ich dachte, wir würden alle sterben müssen. Ich dachte, es sei normal für ein jüdisches Kind." Friedman, die als Kind in Auschwitz war, überstand den Nazi-Terror und teilte wie einige andere Überlebende auch ihre berührenden Erinnerungen am Montag bei der Gedenkveranstaltung im früheren Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau.

Es könnte das letzte Mal gewesen sein, dass Zeitzeugen bei einer größeren Gedenkveranstaltung zur Befreiung von Auschwitz von den Verbrechen der Nationalsozialisten erzählen. Dieses Gefühl war am Montag beim Gedenken zum 80. Jahrestag der Befreiung des ehemaligen deutschen Konzentrationslagers vorherrschend.
Holocaust-Überlebende waren in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau zugegen sowie zahlreiche Staatsoberhäupter. Die Gäste, darunter der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj und König Charles III., waren in diesem Jahr besonders hochkarätig.
Zeitzeugen im Zentrum des Gedenkens
Aus Deutschland waren Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) mit einer hochrangigen Delegation angereist. Im Zentrum der Gedenkveranstaltung zum Jahrestag stehen traditionell die Zeitzeugen. Mehrere Überlebende sprachen von ihren Erinnerungen - und mahnten die Menschen heute, mutig aufzustehen gegen Antisemitismus und Verschwörungsmythen, wie etwa der Präsident des Internationalen Auschwitz-Komitees, Marian Turski (98).
Steinmeier sagte nach einem Rundgang durch das sogenannte Stammlager Auschwitz I sichtlich berührt, die aus den NS-Verbrechen erwachsende Verantwortung Deutschlands höre nie auf. "Wir in Deutschland, wir vergessen nicht", so das deutsche Staatsoberhaupt. "Erinnerung kennt keinen Schlussstrich und Verantwortung deshalb auch nicht." Was Zeitzeugen zu sagen hätten, sei von unschätzbarem Wert.

Nun sei es jedoch auch an den nachfolgenden Generationen, ihre Mahnung an die nächsten Generationen weiterzureichen. Auschwitz steht für die Schoah Am 27. Januar 1945 hatten Soldaten der Roten Armee die letzten geschätzt 7.000 Inhaftierten des deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau befreit. Die Zahl der in Auschwitz und im dazugehörigen Vernichtungslager Birkenau ermordeten Menschen wird auf etwa 1,1 bis 1,5 Millionen geschätzt. Das Lager nahe der polnischen Kleinstadt Oswiecim in der Nähe von Krakau war das größte Konzentrationslager der Nazis.
Die große Mehrheit der dorthin Deportierten waren Jüdinnen und Juden, dazu kamen etwa 140.000 Polen, Zehntausende Sinti und Roma sowie Tausende politische Häftlinge anderer Nationalität. Auschwitz wurde zum Synonym für die Schoah.
Jüngere wissen nur noch wenig
Zum Holocaust-Gedenktag hatte auch Kanzler Scholz dazu aufgerufen, sich besonders um eine Erinnerungskultur für die jüngere Generation zu bemühen. "Es muss uns bedrücken, wie viele junge Menschen in Deutschland kaum noch etwas über den Holocaust wissen", sagte er mehreren Zeitungen (Montag). "Das ist eine Mahnung und ein Auftrag an uns alle, daran etwas zu ändern." Es gelte auch, die Erinnerung hochzuhalten, wenn die letzten Zeugen einmal nicht mehr lebten.
Der Holocaust-Überlebende Christian Pfeil, der Steinmeier begleitete, beklagte ebenfalls zu wenig Wissen über die NS-Verbrechen bei Jugendlichen. Er finde daher, dass für Schüler ein Besuch in einem früheren NS-Konzentrationslager verpflichtend sein sollte. Jugendliche sollten mit eigenen Augen sehen, "was Nazi-Deutschland damals den Menschen angetan hat". Er glaube nicht, dass Jugendliche sich sonst vorstellen könnten, was es bedeute, dass damals rund sechs Millionen Juden und rund 500.000 Sinti und Roma aus ganz Europa ermordet worden seien, so Pfeil.

Dass das Wissen über den Holocaust unter jungen Menschen mitunter gering ist, hatte kürzlich auch eine Umfrage im Auftrag der Jewish Claims Conference ergeben: Fast 40 Prozent der Befragten zwischen 18 und 29 Jahren konnten in Deutschland keine korrekten historischen Angaben zur NS-Zeit machen. Jeder zehnte Erwachsene kennt demnach die Begriffe Holocaust oder Schoah nicht. "Damals waren wir Opfer in einem moralischen Vakuum", sagte am Montag die Überlebende Friedman. Heute gebe es die Verpflichtung, an die NS-Verbrechen zu erinnern. Auch der polnisch-jüdische Arzt Leon Weintraub warnte vor neuen Formen des Rassismus und appellierte an die jungen Menschen, tolerant und wachsam zu sein. Man dürfe die Fehler der 1930er Jahre nicht wiederholen.