Totenkult und Aberglauben auf Frankreichs Insel La Reunion

Beten zum Halsabschneider - Kochen für die Toten

Zum Fest Allerheiligengehört der Besuch auf dem Friedhof. Auf Frankreichs Multi-Kulti-Insel La Reunion sind Leben und Tod, Kulte und Okkultes immer ein Thema – und das auf höchst unterschiedliche Weise.

Autor/in:
Alexander Brüggemann
 (DR)

Unter all den bunten Gräbern auf dem Friedhof von Saint-Pierre sticht eine Gruft besonders hervor. Es riecht nach Rum und irgendwie verkohlt. Am Fußende des Grabes mit den roten Schleifen über schwarzem Kreuz stehen ein paar halb gefüllte Gläser Alkohol, selbstgedrehte Zigaretten, Eier und windschiefe Kerzen. Seit einigen Jahren flögen hier sogar an jedem ersten Freitag im Monat geschlachtete schwarze Hähne über die Mauer, bezeugt ein Einheimischer.



Die signalrote Grabstelle gehört dem 1911, vor 100 Jahren, hingerichteten Massenmörder Sitarane, der hier auf der französischen Übersee-Insel La Reunion mit seiner satanischen Bande sein Unwesen trieb. Gemeinsam mit den Spießgesellen Fontaine und Saint-Ange (heiliger Engel), einem der bis heute zahlreichen Wunderheiler-Zauberer ("sorciers"), überfiel er nachts abgelegene Gehöfte. Sie betäubten die Bewohner mit einer okkulten Mixtur und töteten sie auf teils abscheuliche Art.



"Friedhof der verlorenen Seelen"

Mit den Naturalien, die Sitarane entbehren muss, da seine Christenseele nicht in den Himmel darf, wollen Inselbewohner den Bösewicht gnädig stimmen. Oder gar mit im Sand vergrabenen Zettelchen Böses auf jene lenken, die ihnen selbst Böses zugefügt haben. Ein ähnliches Phänomen ist auf dem Seemannsfriedhof von Saint-Paul im Westen der Insel zu beobachten. Hier macht man dem Freibeuter Olivier le Vasseur, genannt "La Buse" (Bussard), seine Aufwartung. Er wurde 1730 im Namen des Königs gehenkt. Sein Schatz wurde nie gefunden.



Auch der "Friedhof der verlorenen Seelen" im Schatten der Zuckerfabrik Le Gol erhält manchmal merkwürdige nächtliche Besucher.  Hier sind, geschart um den Priester und Revolutionskämpfer gegen die Sklaverei, Pere Jean Lafosse (1745-1820), die Opfer des Sklavenaufstands von 1811 begraben. Ausgerechnet ein Sklave verriet damals die Erhebung der Entrechteten. Mehr als 150 Aufrührer wurden getötet und in ein Massengrab geworfen.



Magie gepaart mit katholischer Volksfrömmigkeit

Leben und Tod, Kulte und Okkultes sind auf Frankreichs Multi-Kulti-Insel La Reunion immer ein Thema. Alle Weltreligionen sind auf dem einst unbewohnten Eiland im Indischen Ozean versammelt: Christen, Hindus und Muslime, Buddhisten, Taoisten, Konfuzianer, Juden und Baha"i. Viele sind Nachkommen jener Fremdarbeiter, die nach Abschaffung der Sklaverei 1848 für wenig Geld in China, Indien oder dem heutigen Pakistan angeworben wurden, um hier Zuckerrohr, Kaffee oder Vanille für die weißen Kolonialherren zu ernten.



Das animistische Element, gepaart mit abergläubischen Ritualen, kommt von der 800 Kilometer entfernten Insel Madagaskar, von wo bis ins 19. Jahrhundert die meisten schwarzen Sklaven stammten. Vielfach sind deren magische Riten hier eigentümlich gepaart mit einer tiefen katholischen Volksfrömmigkeit.



Selbst wer nicht regelmäßig an religiösen Feiern teilnimmt, pflegt auf Reunion zumindest die "Verbindung der Lebenden mit den Toten", wie der katholische Bischof der Insel, Gilbert Aubry, die weit verbreiteten Friedhofsbesuche nennt. Als eine Art "gemeinsamer Psychologie", so der Bischof, wirke der Gedanke: "Die Toten sind nicht tot, sondern sogar lebendiger als wir - nur eben auf andere Weise." So kochen viele chinesischstämmige Christen nach Tradition ihrer Vorfahren am Wochenende frische Speisen, die sie dann zu den Gräbern bringen.



Nicht alle Toten kommen auf dem Friedhof an

Auch viele Hindus sind auf christlichen Friedhöfen bestattet. Ihre Gräber sind an großen gelben, schleifenähnlichen Symbolen an Stelle des Kreuzes erkennbar. Zwar schreibt der Hinduismus eigentlich die Verbrennung der Toten an einem heiligen Fluss vor - doch sieht dies die französische Bestattungsverordnung nicht vor.



Nicht alle Toten kommen freilich überhaupt auf dem Friedhof an. Vor einigen Jahren entdeckte die Polizei in einem Wohnhaus in Saint-Benoit die mumifizierte Leiche von Zoubeda Issabhay. 23 Jahre lang wartete die Familie auf die Auferstehung der jungen Muslima - weil ein Wunderheiler aus Indien es so angekündigt hatte. Weder im Islam noch im Hinduismus sind zwar im entferntesten Bestattungen im eigenen Schlafzimmer vorgesehen - doch auf Reunion läuft eben Vieles anders zwischen den Lebenden und den Toten.