Mit Lobsang Sangay betrete eine neue Generation die politische Bühne, die sich nicht mehr aus den alten Adelsfamilien und den Klosterschulen rekrutiere, sagt Wolfgang Grader, Vorsitzender der Tibet-Initiative Deutschland, die das Selbstbestimmungsrecht der Tibeter fordert. Sie hat nach eigenen Angaben 2000 Mitglieder.
55 Prozent der Wählerstimmen fielen auf Sangay
Sangay hatte mit 55 Prozent der Wählerstimmen die Mitbewerber um das Amt des Premierministers (Kalon Tripa) weit hinter sich gelassen. Nach Ansicht von Beobachtern konnte er besonders junge Wähler mobilisieren. Mitte August soll er offiziell in das Amt eingeführt werden und anschließend eine neue Regierung bilden. Diese muss dann durch das ebenfalls neu gewählte Parlament (Chithui) bestätigt werden.
Die Exil-Wahlen erfuhren laut der Tibet-Initiative durch die Ankündigung des Dalai Lama, sich von seinen politischen Ämtern zurückziehen zu wollen, international große Beachtung. "Mit seiner Ankündigung hat der Dalai Lama deutlich gemacht, wie ernst ihm der demokratische Reformprozess ist", sagte Grader. "Gleichzeitig hat er so die Aufmerksamkeit auf genau jenen Mann gelenkt, der diesen Wandel zukünftig vorantreiben und die Tibeter politisch vertreten wird."
Der Gegensatz zwischen Lobsang Sangay und dem 14. Dalai Lama könnte kaum größer sein. Sangay hat an der amerikanischen Elite-Universität Harvard Jura studiert. Er tritt in die Fußstapfen des Dalai Lama, der - obschon umfassend gebildet - nie eine normale Schule besucht hat. Der 75-Jährige war in einem buddhistischen Kloster auf seine Rolle als politischer und religiöser Führer der Tibeter vorbereitet worden. Zudem wird der Dalai Lama, der 1989 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, von seinem Volk als Heiligkeit und Wiedergeburt früherer buddhistischer Oberhäupter verehrt.
Sangay hat nie in Tibet gelebt
Sein Nachfolger an der Spitze der Exilregierung ist ein Politiker, der von Exiltibetern in der ganzen Welt gewählt wurde. Zurzeit arbeitet Sangay noch an der Harvard-Universität in Boston, an der auch US-Präsident Barack Obama studiert hat. Der tibetische Politiker ist im indischen Darjeeling geboren und wohnt seit über 15 Jahren in den Vereinigten Staaten. Anders als der Dalai Lama, der 1959 aus Tibet floh, hat er nie in der Heimat gelebt.
Zu den dritten direkten Kalon Tripa-Wahlen und den 15. Parlamentswahlen am 20. März diesen Jahres hatten sich nach Angaben der Wahlkommission 83.399 Exil-Tibeter registrieren lassen. Wählen konnte grundsätzlich jeder Tibeter über 18 Jahre, der das so genannte "Green Book" - eine Art Personalausweis - und eine Steuerkarte besitzt. Die Abgeordneten und der Premierminister werden in zwei Wahlgängen für fünf Jahre gewählt. Die Wahlbeteiligung lag bei 58,97 Prozent und somit deutlich höher als bei den vorangegangenen Wahlen.
Experte für internationales Recht und Menschenrechte
Sangay wird in das kleine Dharamsala in Nordindien umziehen müssen, wo die tibetische Exilregierung ihren Sitz hat. Er gilt als Experte für internationales Recht und Menschenrechte, was ihm in seinem neuen Amt helfen dürfte. Denn die tibetische Exilregierung ist international nicht anerkannt. Das mächtige China sieht Tibet als integralen Bestandteil seines Territoriums an und will selbst von einer Teilautonomie der Region nichts wissen.
Sangay weiß, was vor ihm liegt. Der Dalai Lama, der sich nun ganz auf seine religiöse Rolle konzentrieren will, sei unersetzlich, sagt der neue gewählte Premier. In Jahrzehnte langer Arbeit hat sich der Dalai Lama großes internationales Ansehen und moralischer Autorität verschafft. Er gilt als die Stimme und das Gesicht Tibets in der Welt.
Doch gleichzeitig macht Sangay klar, dass auch bei den Tibetern ein Generationswechsel unausweichlich ist. Schon wird spekuliert, ob der vom Dalai Lama vertretene "Mittlere Weg" künftig infrage gestellt wird: Er setzte auf strikte Gewaltfreiheit und Dialog, um eine Teilautonomie für Tibet innerhalb Chinas zu erreichen. Radikalere Stimmen, vor allem aus den Reihen der Jüngeren in der Exil-Gemeinde, fordern schon länger eine härtere Gangart gegenüber Peking - und die volle Unabhängigkeit für Tibet.
Tibet-Initiative Deutschland hofft nach Wahl auf demokratische Reformen
Neuer Premierminister der Exil-Tibeter
Der Harvard-Jurist Lobsang Sangay führt künftig die Exilregierung der Tibeter. In Deutschland lässt die Wahl Hoffnung keimen: "Viele Tibeter erhoffen sich nun eine politische Zeitenwende bezüglich demokratischer Reformen und des Dialogs mit der chinesischen Regierung", sagte der Vorsitzende der Tibet-Initiative Deutschland.
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