Thierse: Die Kirche war auch das "große Gegenüber" zu den Kommunisten

Vorverurteilungen nicht angebracht

Der Rücktritt des Warschauer Erzbischofs Stanislaw Wielgus ist in Deutschland weithin auf Zustimmung gestoßen.
Die Koordinatorin der Bundesregierung für die deutsch-polnische Zusammenarbeit, Gesine Schwan, hat mit Blick auf den Rücktritt des polnischen Erzbischofs Stanislaw Wielgus vor Vorverurteilungen gewarnt. Um ein "einigermaßen vertretbares Urteil" zu fällen, müsse man die damaligen Zeitumstände genau in den Blick nehmen, sagte Schwan am Montag.

 (DR)

"Aufarbeitung dauert noch Jahrzehnte"
Allerdings sei der Rücktritt des Bischofs unvermeidbar geworden, da er sich in Widersprüche verwickelt habe. Dies gelte unabhängig von der Einschätzung der "ganzen schwierigen Vergangenheit".

Nach Einschätzung Schwans, die auch Präsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder ist, steht nicht nur Polen, sondern allen Ländern "mit so schwierigen Regimen" eine Aufarbeitung der Geschichte noch bevor. Das dauere Jahrzehnte, wie die deutsche Geschichte zeige. Auch die Kirche in Polen habe dabei wohl noch "eine schwierige Aufgabe vor sich".

Dabei dürfe man sie aber nicht in Bausch und Bogen verdammen und ihre Verdienste nicht vergessen. Schwan appellierte an die Verantwortlichen der polnischen Kirche, ihrer besonderen Verantwortung und Aufgabe gerecht zu werden und besonders sorgfältig zu sein. Viele polnische Katholiken hätten sich großartig verhalten, "andere wiederum nicht". Dasselbe sei aber auch bei der katholischen und evangelischen Kirche in Deutschland unter dem Nationalsozialismus der Fall gewesen.

Thierse: "Notwendiger Schritt"
Bundestags-Vizepräsident Wolfgang Thierse bezeichnete den Rücktritt am Montag als notwendigen Schritt, weil der Erzbischof von Warschau als wichtigster polnischer Bischof vertrauenswürdig sein müsse.

Thierse sagte im Deutschlandfunk, es sei besser, dass Wielgus den Rücktritt jetzt vollzogen habe, als sich im Amt dauerhafter Kritik ausgesetzt zu sehen. Zugleich warnte er vor einer Vorverurteilung und erinnerte daran, dass ohne die katholische Kirche in Polen die Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc nicht möglich gewesen wäre.

Dass sich die Polen bislang weniger mit ihrer Vergangenheit auseinander gesetzt hätten als die Deutschen, führte der Bundestags-Vizepräsident auf unterschiedliche Mentalitäten zurück. In Polen sei die Opposition nach 1989 von dem Gefühl beseelt gewesen, gesiegt zu haben und deshalb "großzügig" sein zu sollen. Zudem sei die Kirche das "große Gegenüber" zu den Kommunisten gewesen, mit dem man sich identifiziert habe. Um so größer sei jetzt die Erschütterung über die Spitzel innerhalb der Kirche.

Weitere Reaktionen
Die Kirchenvolksbewegung sprach von einem Warnzeichen für den Vatikan. Auch im Hinblick auf andere problematische Bischofsernennungen der vergangenen Jahren sollten in Rom die Personalentscheidungen künftig "sehr viel sorgfältiger" und unter stärkerer Beteiligung der Ortskirchen getroffen werden, heißt es in einer in München veröffentlichten Erklärung von "Wir sind Kirche". Die Bewegung fürchtet, dass das lange Festhalten des Vatikan an Wielgus der katholischen Kirche nicht nur in Polen einen unermesslichen Schaden an Glaubwürdigkeit zufügen wird.

Der Erfurter Weihbischof Reinhard Hauke kritisierte das Verhalten des Erzbischofs. Er habe zu spät die Notbremse gezogen, sagte Hauke der KNA. Eine Zusammenarbeit mit dem kommunistischen Geheimdienst - egal aus welchen Gründen - sei nicht akzeptabel, zumal andere polnische Geistliche eine Haft in Kauf genommen und eine Zusammenarbeit verweigert hätten. Zugleich warnte er vor einer moralischen Verurteilung Wielgus'. Das Gefühl des Bedrängtseins der Menschen, die in das Visier des kommunistischen Geheimdienstes geraten waren, könne sich kein Außenstehender vorstellen.

Der Berliner katholische Medienexperte Lutz Nehk forderte eine sorgfältigere Prüfung der Bischofskandidaten in Polen. Nehk, der katholischer Senderbeauftragter beim DeutschlandRadio und bei der Deutschen Welle TV ist, kritisierte insbesondere die Apostolische Nuntiatur in Polen. Sie habe ihre Arbeit nicht korrekt erledigt, sagte er. Er rechne mit weiteren Geistlichen, bei denen Kontakte zum kommunistischen Regime aufgedeckt würden. Zugleich zeige sich beim Rücktritt des Erzbischofs ein neuer Umgang der polnischen Gesellschaft mit der Kirche. Diese müsse sich in einem sehr viel stärkerem Maße der öffentlichen Kritik stellen.