DOMRADIO.DE: Bisher haben Sie vor allem auf den Rassismus in der Kirche aufmerksam gemacht. In Ihrem neuen Buch "Gemeinsam anders" zeigen Sie ganz unterschiedliche Diskriminierungserfahrungen auf. Welche zum Beispiel?

Sarah Vecera (evangelische Theologin, Autorin und Herausgeberin des Sammelbands "Gemeinsam anders - Für eine vielfältige und gerechte Zukunft"): Es geht um Ableismus, Behindertenfeindlichkeit, Queerfeindlichkeit, aber auch um Klassismus, also die Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft. Ein Thema ist auch Unterkategorien von Rassismus, zum Beispiel anti-asiatischer Rassismus, also eine spezielle Form des Rassismus, und die Auseinandersetzung mit der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt.
DOMRADIO.DE: Ein Begriff, der in fast allen Texten mitschwingt, ist Intersektionalität. Was bedeutet das?
Vecera: Die Afroamerikanerin Kimberly Crenshaw hat den Begriff bereits in den 80er Jahren geprägt. Sie ist Juristin. Im Englischen meint der Begriff "intersection" eigentlich Kreuzung. Das heißt zum Beispiel, dass ich als schwarze deutsche Frau, die von Rassismus betroffen ist, auch von Sexismus betroffen bin. In meiner Kindheit war ich auch von Klassismus betroffen.
Sind das jetzt drei unabhängige Diskriminierungsformen? Kann ich immer sagen: jetzt trifft mich gerade der Klassismus, jetzt trifft mich Sexismus und jetzt der Rassismus? Nein, denn es ist eine Überschneidung und nicht einfach eine Addition von Diskriminierungsformen.
Beispielsweise wirkt Rassismus auf eine muslimisch gelesene Frau anders als auf einen schwarz gelesenen Mann. Das sind ganz unterschiedliche Überschneidungen von Diskriminierung, die eine jeweils andere Außenwirkung haben. Deswegen ist es wichtig, Personen so zu betrachten, dass sie nicht nur von mehreren Formen von Diskriminierung betroffen sind, sondern auch in deren Wirkweise.

DOMRADIO.DE: In Ihrem Buch schildern Sie Ihre Erfahrung als junge Frau, die aus einer finanziell armen Familie stammt, in einer von Mittel- und Oberschichtsleuten dominierten Kirche. Inwieweit sehen Sie darin ein Problem?
Vecera: Es ist insofern ein Problem, dass die Mehrheit unserer Gesellschaft nicht der Oberschicht oder der gehobenen Mittelschicht angehört. Die sogenannten Volkskirchen - wobei ich den Begriff Volk problematisch finde - wollen ja für alle Menschen offen sein.
Aber sie sprechen eine große Breite der Gesellschaft gar nicht an. Die Kirche beruft sich auf einen Jesus Christus, der eigentlich eine Armenbewegung gegründet hat, der mit seinen JüngerInnen dafür stand, Reichtum abzulegen, um bei den Menschen zu sein. Da ist eine große Diskrepanz. Darüber müssen wir sprechen.
DOMRADIO.DE: Zum Selbstverständnis der Kirchen gehört, dass alle Menschen als Kinder Gottes gleich geliebt und gleich viel wert sind. Tut es deshalb vielleicht besonders weh, wenn Menschen in den Kirchen rassistische, klassistische, sexistische oder auch andere Ausgrenzungserfahrungen machen?

Vecera: Ja, weil wir eben nicht damit rechnen. Wir halten uns vor Augen, Kirche sei ein sicherer Ort, in der Kirche sind alle willkommen. Das sind Floskeln, die ich von Kind auf gehört habe. Das Problem ist, dass die Menschen es auch so meinen. Gerade in der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt sehen wir, dass dieses Selbstbild einen Nährboden für sexualisierte Gewalt und für Diskriminierungsformen bietet.
Gerade deshalb ist es wichtig, sich ins Gedächtnis zu rufen: Wir sind nur Menschen und wir machen Fehler. Wir wollen alle willkommen heißen, aber wir schaffen es nicht. Dabei geht es nicht um Schuldzuweisung. Ich glaube den Menschen, dass sie alle willkommen heißen wollen. Es geht darum, miteinander offen ins Gespräch zu kommen und ehrlich zu reflektieren: Wie können wir der Ort werden, der wir eigentlich sein wollen?
DOMRADIO.DE: "Der Kampf gegen Unterdrückung ist kein optionales Extra des christlichen Glaubens, sondern der Wesenskern", heißt es an einer Stelle. Warum ist dieser Kampf so zentral?
Vecera: Jesus war selbst unterwegs und hat sich Menschen zugewandt, die ausgeschlossen wurden. Das ist die Botschaft, auf die wir uns als Christen berufen. Deswegen ist es nicht nur ein nettes Add-on, sondern der Kern dessen, was wir predigen, wofür wir stehen, woran wir glauben. Leider ist uns dieser Aspekt abhanden gekommen und wir wissen gar nicht mehr, wie wir da hingekommen sind. Da gilt es Räume zu schaffen, um darüber zu sprechen.
DOMRADIO.DE: Sie legen mit ihrer Kritik den Finger in die Wunde. Merken Sie eine Wirkung davon? Tut sich schon etwas in der Selbstwahrnehmung der Kirchen? Wird selbstkritischer auf den Umgang mit dem "Anderen" geschaut?
Vecera: Auf jeden Fall. Ich bin diese Woche auf mehreren Lesungen unterwegs, werde in Pfarrkonvente eingeladen, also in die hauptamtliche Besprechung von Pfarrpersonen, darf an Universitäten sprechen. Es besteht eine sehr große Offenheit, weiterzukommen und sich zu reflektieren. Das stimmt mich hoffnungsvoll.
DOMRADIO.DE: Ihre Vision ist eine vielfältige und gerechte Kirche. Warum ist es so wichtig, dass sich viele, die auf verschiedene Weise anders sind, zusammentun, damit am Ende alle sein dürfen, wie sie sind?

Vecera: Unterdrückungssysteme wollen uns spalten und uns gegeneinander aufhetzen. Ich habe bei der Zusammenstellung der AutorInnen des Buches und der Themen gemerkt, dass die Systeme, gegen die wir ankämpfen - das Patriarchat, der Kapitalismus, der Rassismus - uns letztlich alle nicht wollen.
Das Schlimmste, was Unterdrückungssystemen passieren kann, ist, wenn wir uns solidarisch zusammentun. Denn wir sind ja viele. Wir werden zwar als die "anderen" gelabelt, aber fast jede Person in unserer Gesellschaft hat sich schon mal anders gefühlt. Wir kennen alle das Gefühl anders zu sein. Das verbindet uns letztendlich. Gerade in diesen polarisierenden Zeiten müssen wir uns als Kirchen ökumenisch zusammenschließen. Denn wir sind nicht diejenigen, die zur Spaltung der Gesellschaft beitragen wollen. Deswegen ist es umso wichtiger, sich zusammen zu tun.
DOMRADIO.DE: Gibt es mit Blick auf die verschiedenen Diskriminierungsformen in der Kirche etwas, das Sie im Moment besonders bedrückt?
Vecera: Wie gesagt finde ich die aktuelle politische Situation sehr bedrückend. Das macht vielen Menschen Angst. Für Kirche würde ich mir wünschen, dass wir Menschen, die gerade existenzielle Angst haben, stärker in den Blick nehmen und sichere Räume schaffen. Das betrifft Menschen mit internationaler Familiengeschichte, Trans-Menschen, Menschen, die aktuell um ihren Familiennachzug ringen.
Kirche beschäftigt sich - für die evangelische Kirche kann ich das sagen - sehr viel mit Menschen, die die AfD wählen und damit, wie wir diese zurückgewinnen. Wir beschäftigen uns mehr mit Menschen, die rechts wählen, als mit denen, die darunter leiden. Eine zweite Sache, die mich bedrückt, ist die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt, vor allem in der evangelischen Kirche. Dort eine wesentliche Haltungsänderung herbeizurufen, ist schwierig. Vielleicht können wir von der katholischen Kirchen lernen, die schon ein paar Jahre länger mit diesem Thema intensiv zu tun hat.
DOMRADIO.DE: Was erfahren Sie als besonders ermutigend?
Vecera: Dass viele Menschen beginnen, die Dinge ernsthaft zu hinterfragen. Bei meinen Lesungen zum Thema Anti-Rassismus merke ich, dass Menschen gar nicht mehr nach Beweisen suchen, ob es Rassismus gibt. Da kann man natürlich sagen, das ist erschreckend, aber es ist auch etwas Gutes, weil sie merken, dass die Lage ernst ist. Wie können wir Zukunft gestalten? Das stimmt mich hoffnungsvoll, und das ist nötig.
Das Interview führte Hilde Regeniter.