Theologe hebt die politische Dimension der Liturgie hervor

Von Ambrosius bis zum Politischen Nachtgebet

Ist der Gottesdienst der richtige Ort für politische Auseinandersetzungen oder gar für kirchenpolitische Streitigkeiten? Benedikt Kranemann sieht darin eine lange geschichtliche und biblische Tradition, weiß aber auch um die Grenzen.

 Friedensgebet in der Nikolaikirche / © Jan Woitas (dpa)
Friedensgebet in der Nikolaikirche / © Jan Woitas ( dpa )

DOMRADIO.DE: Wie politisch oder kirchenpolitisch darf die Liturgie eigentlich sein?

Prof. Benedikt Kranemann / © Harald Oppitz (KNA)
Prof. Benedikt Kranemann / © Harald Oppitz ( KNA )

Prof. Dr. Benedikt Kranemann (Lehrstuhl für Liturgiewissenschaft an der Universität Erfurt): Das ist eine ganz heikle Frage, die die Liturgiegeschichte von ihren Anfängen an begleitet. Denn wir haben schon relativ früh in der Liturgiegeschichte Beispiele dafür, dass Liturgie durchaus auch eine politische Nuance erhält – beispielsweise wenn Ambrosius Hymnen gegen die Arianer einsetzt, beispielsweise wenn wir im Laufe der Reformationszeit Auseinandersetzungen zwischen den sich herausbildenden Gruppen, später Konfessionen, haben, in denen natürlich auch Kirchenpolitik betrieben wird, beispielsweise wenn wir etwa in der Zeit um 1800 Reformen der Kirche haben, die durchaus mit kirchlicher Autorität, vielleicht sogar unter Einsatz von Militär durchgesetzt werden. Oder schauen wir ins 20. Jahrhundert: das Politische Nachtgebet. Dort haben wir ja auch durchaus politische Diskussion, die im Raum von Liturgie stattfindet.

Zunächst einmal muss man klar sagen, dass Liturgie auch politisch ist. Wenn ich an Lesungen denke, wenn ich an Fürbitten denke, wenn ich auch an einzelne Riten und Rituale denke, also das Teilen von Brot und Wein in einer Welt, in der es für einen nicht unerheblichen Teil der Menschheit Hunger gibt, ist durchaus ein politisches Zeichen, hat eine politische Dimension.

Auch Kirchenpolitik, die in den Gottesdienst hineingetragen wird, ist kein neues Phänomen, auch wenn es immer wieder ein ärgerliches Phänomen ist, dass Liturgie gestört wird oder dass sich manche im Gottesdienst stören, weil andere auf Missstände und Probleme in der Kirche hinweisen und das im Gottesdienst tun. Aber auch das ist nicht neu.

Prof. Dr. Benedikt Kranemann

"Liturgie ist ein Geschehen, das Kirche abbildet. Von daher kann man zunächst einmal erklären, ohne dass man es gutheißen muss, dass Kirchenpolitik auch Einfluss auf Liturgie nimmt."

Ich erinnere nur an Auseinandersetzungen aus jüngerer Zeit zwischen der deutschen Kirche und Papst Benedikt, was dann dazu geführt hat, dass manche Priester den Papst nicht mehr im Hochgebet genannt haben.

Da haben wir auch so einen Punkt, über den man sehr streiten kann. Ist das jetzt nur ein äußeres Zeichen? Gibt man da Gebetsgemeinschaft auf? Es ist ein Balanceakt. Liturgie ist ein hochsymbolisches Geschehen. Liturgie ist ein Geschehen, das Kirche abbildet. Von daher kann man zunächst einmal erklären, ohne dass man es gutheißen muss, dass Kirchenpolitik auch Einfluss auf Liturgie nimmt.

DOMRADIO.DE: Es gibt auch Themen, bei deren Bewertung die Gottesdienstgemeinde uneins ist. Sollte da der Vorsteher oder Leiter des Gottesdienstes in seiner doch recht beherrschenden Rolle eher zurückhaltend sein oder diese Themen gerade deshalb positionieren?

Kranemann: Ich erinnere mich gut an die Zeit, in der es diesen NATO-Nachrüstungsbeschluss mit den Pershing-Raketen gab. Ich war damals in der Jugendarbeit tätig. Wir Jugendlichen waren der Meinung, dagegen muss man protestieren. Ältere in der Gemeinde waren der Meinung, das ist genau der richtige Weg. Der Pfarrer hat das ein Stück weit moderiert, aber er hat versucht, es aus der Liturgie herauszuholen.

Ökumenisches Politisches Nachtgebet 1968 in der Antoniterkirche in Köln (KNA)
Ökumenisches Politisches Nachtgebet 1968 in der Antoniterkirche in Köln / ( KNA )

Wir haben natürlich ein Problem in vielen Gemeinden, an vielen Orten, dass die Liturgie möglicherweise der einzige Ort ist, wo Gemeinde überhaupt zusammenkommt und über solche Themen diskutiert und streitet.

Dann erklärt sich auch, warum solche Dinge im Gottesdienst abgebildet werden. Auf der anderen Seite muss man sagen, dass Themen, die Militärpolitik betreffen, die Ökologie und Schöpfung betreffen, Fragen, die Menschenrechte betreffen, sind natürlich Fragen, die auch den Gottesdienst tangieren, die auch im Gottesdienst eine Rolle spielen. Im Gottesdienst ist Schöpfung Thema, im Gottesdienst sind ja letztlich auch Menschenrechte Thema. Dass dann solche Fragen mit in den Gottesdienst hineingebracht werden, das ist etwas ganz Natürliches und irgendwie auch Sinnvolles.

Prof. Dr. Benedikt Kranemann

"Problematisch wird es, wenn politische Auseinandersetzung im Gottesdienst ausgetragen wird und der Gottesdienst ja letztlich auch gar nicht den Ort bietet, um diese Dinge diskutieren zu können, um sie erörtern zu können."

Problematisch wird es, wenn politische Auseinandersetzung im Gottesdienst ausgetragen wird und der Gottesdienst ja letztlich auch gar nicht den Ort bietet, um diese Dinge diskutieren zu können, um sie erörtern zu können. Also müsste man vor dem Gottesdienst oder nach dem Gottesdienst den Raum haben, solche Dinge zu diskutieren.

Ich kenne Gemeinden, die beispielsweise im Umfeld des Gottesdienstes Aktionen von Amnesty International aufnehmen. Aber sie machen das explizit nicht im Gottesdienst, sondern im Gottesdienst bringen sie explizit, implizit die Themen, die sich mit Menschenrechten verbinden, vor Gott. Und jeder entscheidet dann selbst, wie er sich nach der Liturgie "politisch verhält" und ob er sich in eine solche Liste von Amnesty einträgt oder nicht. Aber da merkt man auch schon, dass auch dann Liturgie in gewisser Weise politisch konnotiert bleibt.

DOMRADIO.DE: Der Bonner Politikwissenschaftler Andreas Püttmann rät grundsätzlich dazu, Personal- und Kirchenpolitik aus Gottesdiensten herauszuhalten. Wer mit einem bestimmten Kleriker oder Gottesdienstleiter partout nicht könne, solle eben einen anderen Gottesdienst besuchen. Sie leben in der katholischen Diaspora. Teilen Sie diese Auffassung?

Kranemann: Zum Teil haben Menschen ja gar nicht die Möglichkeit, einen anderen Ort zu suchen. Wenn ich mir manche Dörfer oder ländlichen Verhältnisse vorstelle, da wird es sehr, sehr schwer, den Ort zu wechseln. Hier müssten Dinge außerhalb des Gottesdienstes diskutiert oder vor dem Gottesdienst geklärt werden.

Prof. Dr. Benedikt Kranemann

"Bestimmte Personalkonstellationen, bestimmte Geschlechterkonstellationen, bestimmte Machtkonstellationen in der Kirche spiegeln sich natürlich auch im Gottesdienst wider."

Es ist ja nicht so, dass Kirchen- und Personalpolitik grundsätzlich aus dem Gottesdienst heraus bleibt. Das ist eine Frage, für die wir auch in der Liturgiewissenschaft im Umfeld, im Vorfeld des Synodalen Weges eine neue Sensibilität, ein neues Interesse gewonnen haben. Liturgie – das sagt man schon seit langem – spiegelt ein bestimmtes Kirchenbild. Bestimmte Personalkonstellationen, bestimmte Geschlechterkonstellationen, bestimmte Machtkonstellationen in der Kirche spiegeln sich natürlich auch im Gottesdienst wider.

Es ist leicht gesagt, Kirchen- und Personalpolitik aus dem Gottesdienst herauszuhalten. Da sagt jeder gerne Ja. Aber wenn man dann genau hinschaut, sieht man, wie sich beispielsweise ein Amt in der Kirche im Gottesdienst inszenieren kann. Im Gegensatz dazu wurden Frauen von bestimmten Aufgaben in der Kirche ferngehalten. Das liegt nicht so lange zurück. Da haben sich Dinge zwar verändert, aber sie haben sich meines Erachtens auch noch nicht so weitgehend verändert, wie man sich das wünschen würde.

Ein gleichgeschlechtliches Paar hält sich an den Händen / © Harald Oppitz (KNA)
Ein gleichgeschlechtliches Paar hält sich an den Händen / © Harald Oppitz ( KNA )

Auch ist es ein Stück Personal- und Kirchenpolitik, dass bis in jüngste Zeit homosexuelle Paare sich in der Liturgie als solche Paare nicht zeigen durften oder ihnen bestimmte Segensfeiern verwehrt wurden. Ein Fall, der nun länger zurückliegt und da hoffe ich nun, dass das heute wirklich keine Realität mehr ist, wie man ledige Mütter im Umfeld von Taufe notfalls diskriminieren konnte, da fand ja und da findet bis heute Kirchen- und Personalpolitik im Gottesdienst statt.

Die Aachener Heiligtumsfahrt

Die Aachener Heiligtumsfahrt gibt es seit 1349. Sie findet alle sieben Jahre statt. Wegen der Corona-Pandemie wurde der Rhythmus unterbrochen: Statt 2021 wird sie dieses Jahr vom 9. bis 19. Juni veranstaltet. Ziel der Wallfahrt sind die im Aachener Dom befindlichen Heiligtümer: Tuchreliquien, bei denen es sich der Überlieferung nach um das Kleid Marias, das sie in der Geburtsnacht getragen hat, die Windel Jesu, das Enthauptungstuch Johannes' des Täufers sowie das Lendentuch Jesu bei der Kreuzigung handelt. (KNA/17.03.2023)

Heiligtumsfahrt Aachen (KNA)
Heiligtumsfahrt Aachen / ( KNA )

Auseinandersetzungen kirchlicher Art, konkret wie den Fall von Kardinal Woelki bei der Aachener Wallfahrt, solche Dinge aus dem Gottesdienst herauszuhalten, da kann man schnell zustimmen. Und dennoch muss man sagen, dass natürlich das, was politisch die Kirche bewegt, in jeder Liturgiefeier, insbesondere in jeder Eucharistiefeier stattfindet. Ich würde sogar sagen, bis in die Raumkonstellation hinein wird hier in gewisser Weise auch Politik betrieben.

DOMRADIO.DE: War die Aachener Entscheidung aus Ihrer Sicht richtig?

Kranemann: Ja, ich denke, dass das die richtige Entscheidung ist, nicht hinzugehen und für keine Eskalation bei der Wallfahrt zu sorgen. Nur liegt das Problem ja ganz woanders. Das Problem liegt dort, wo diese Causa nicht geklärt wird und für die Kirche in Deutschland – ich denke, das gilt nicht nur für das Erzbistum Köln – da im Grunde eine Affäre, ein Vorgang offen gehalten wird und für immer neue Verletzungen auf allen Seiten führt. Das muss man sagen.

Aber es führt auch dazu, dass jenseits der Personalie in allen möglichen Bereichen der Kirche Spannungen auftauchen und eben auch im Gottesdienst. Es ist ja auch nicht das erste Mal.

Es hat Firmungen gegeben, wo es Proteste gegeben hat. Es hat eine Messdiener-Wallfahrt nach Rom gegeben, wo es Protest gegeben hat. Da zeigen dieser Protest und diese Auseinandersetzungen, dass hier offensichtlich ein gravierendes Problem in einer Ortskirche besteht, das aber für die gesamte deutsche Ortskirche andernorts gelöst werden müsste. Das kann man nicht in der Liturgie lösen. Von daher finde ich die Entscheidung richtig.

Das Interview führte Jan Hendrik Stens.

Quelle:
DR