Theologe Bayreuther spricht über Glauben in digitalen Zeiten

Technik rollt unsere Welt von hinten auf

Von einer "neuen Zeitrechnung" ist im Zusammenhang mit dem ChatGPT die Rede, von einer Revolution, deren Auswirkungen jene der Industrialisierung übertreffen könnten. Rainer Bayreuther befasst sich mit Künstlicher Intelligenz.

Autor/in:
Paula Konersmann
Künstliche Intelligenz / © Borkin Vadim (shutterstock)
Künstliche Intelligenz / © Borkin Vadim ( shutterstock )

KNA: Bislang kennt man Sie durch Publikationen zur religiösen Musik. Wie kamen Sie jetzt zum Thema Digitalisierung?

Symbolbild Digitalisierung / © Nicolas Armer (dpa)
Symbolbild Digitalisierung / © Nicolas Armer ( dpa )

Rainer Bayreuther (Evangelischer Theologe, Musikwissenschaftler und Autor des Buchs "Der digitale Gott"): Auch in musikalischen Zusammenhängen trifft man inzwischen ständig auf digitale Themen. Ein Beispiel: Ich unterrichte an Hochschulen unter anderem historische Aufführungspraxis. Digitale Anwendungen sind dabei, uns Menschen einzuholen, wenn es darum geht, ein historisches Instrument nachzubauen. Materialien werden gescannt, das 3D-Modell am Rechner optimiert und per 3D-Drucker ausgedruckt. Allmählich habe ich begriffen, dass die Technik dabei ist, unsere Welt von hinten aufzurollen.

KNA: Was meinen Sie damit?

Bayreuther: Algorithmen sind im weitesten Sinne Modellbildungen von der Welt. Wenn sie raffiniert genug sind, wenn genug Energie und Rechenkapazität dahinterstehen, dann können sie der menschlichen Intelligenz Paroli bieten. Und das auch auf jenen Gebieten, die der Mensch bislang als seine ureigenen empfunden hat: beim ästhetischen Empfinden, bei der Intuition oder Geschmacksfragen.

KNA: Manche bezeichnen die Digitalisierung als neue Religion. Zu Recht?

Rainer Bayreuther (Theologe und Autor)

"Viele technischen Entwicklungen der vergangenen Jahre kratzen am Göttlichen. Sie machen zum Beispiel sehr genaue Prognosen über die Zukunft. Vor nicht einmal 200 Jahren hat man Wettervorhersagen als Gotteslästerung empfunden."

Bayreuther: Der Vergleich ist durchaus angebracht. Ein Indiz ist das pseudoreligiöse Sprechen der großen Tech-Konzerne. Die Kirchen - und viele Menschen - empfinden dies als Anmaßung. Aber es steckt halt ein Körnchen Wahrheit darin. Viele technischen Entwicklungen der vergangenen Jahre kratzen am Göttlichen. Sie machen zum Beispiel sehr genaue Prognosen über die Zukunft. Vor nicht einmal 200 Jahren hat man Wettervorhersagen als Gotteslästerung empfunden.

KNA: Ein Aspekt, der Besorgnis weckt, ist die Einzigartigkeit des Menschen. Sie steht im Christentum im Zentrum - ist sie heute in Gefahr?

Rainer Bayreuther (Theologe und Autor)

"Gott, Mensch und Technologie liegen nahe beieinander. Wir müssen die großen Schnittmengen sehen, die diese drei Wesen schon immer hatten, anstatt ängstlich auf Abgrenzung zu dringen."

Bayreuther: Gefahr klingt nach etwas Schlimmem. Hölderlin dichtete, wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch. Ich sehe dieses Menschenbild herausgefordert, denn viele Entwicklungen berühren es massiv. Hilfreich ist es, die ganze Menschheitsgeschichte zu betrachten, auch die Phase, wo sich der Mensch aus dem Tierreich abgelöst hat und genau jene Schritte gegangen ist, die ihn zur höchsten Intelligenz gemacht haben. In einem Schöpfungsbericht der alten Griechen, der mythischen Darstellung vom Raub des Feuers durch Prometheus, besteht die Menschwerdung darin, sich göttliche Techniken anzueignen. Gott, Mensch und Technologie liegen nahe beieinander. Wir müssen die großen Schnittmengen sehen, die diese drei Wesen schon immer hatten, anstatt ängstlich auf Abgrenzung zu dringen.

KNA: Chat-GPT als moderner Prometheus?

Bayreuther: Diese Diskussion erinnert zumindest daran. Die Frage ist, ob eine Veränderung des Menschenbildes aus christlicher Sicht wirklich so schlimm ist. Der Mensch ist zwar ein tolles Tier, aber er ist auch egoistisch, er hat auf viele Dinge eine sehr begrenzte Sicht und er ist für alle möglichen Übel verantwortlich. Wenn nun Intelligenzen auftauchen, die den Menschen verstehen, aber systemischer agieren und weniger egoistisch, die mehr im Blick haben, als ich es als einzelner Mensch haben kann, dann ist das vielleicht keine schlechte Entwicklung - auch im christlichen Sinne.

KNA: Maschinen handeln aber auch nicht nur gut, sondern reproduzieren beispielsweise rassistische Denkmuster.

Bayreuther: Das ist mir zu kurz gedacht. Natürlich lernen die Maschinen auch die schlimmen Dinge - sie lernen alles, das ist der entscheidende Punkt. Es ist eine Frage des Aufwandes an Zeit und Energie, den die Maschinen selbst betreiben. Insofern werden sie den Rassismus ebenso lernen wie die Menschenliebe und den Antirassismus - und sie werden lernen, diese Dinge gegeneinander abzuwägen und das große Ganze in den Blick zu nehmen. Das wird viel umfassender sein als die Perspektive eines einzelnen Menschen - so edel er auch denken mag.

KNA: Sie rechnen also damit, dass Maschinen eines Tages auch moralische Dilemmata lösen werden?

Bayreuther: Das werden sie. Das wird vielleicht nicht aus jeder Perspektive eines Einzelnen gut und richtig sein. Aber in der globalen Perspektive, die diese Maschinen einnehmen, wäre es vielleicht die beste Lösung. Moralische Fragen ergeben sich da, wo Handlungsoptionen gegeneinander abgewogen werden müssen. Dem muss sich eine KI zwingend stellen, und sie kann es womöglich besser als ein menschliches Ego. Dies würde von uns Christen ein Umdenken erfordern: weg vom einzelnen Menschen hin zu einem System, das alle Dinge umfasst, die es in der Welt gibt. Das ist nicht unchristlich. Es gibt nicht nur uns Menschen, sondern auch Tiere, Pflanzen, unbelebte Dinge, die wir bereit sind, als Schöpfung Gottes zu akzeptieren.

KNA: Noch spielen sich die Annäherungen der Kirche an das Digitale auf einer anderen Ebene ab. Gab es durch die Corona-Pandemie einen Schub für die Digitalisierung?

Rainer Bayreuther (Theologe und Autor)

"Ich rechne damit, dass die Kirche der Zukunft viel volatiler sein wird, dass sie sich mit jedem neuen Quantensprung der Technik neu erfinden wird. Das ist nicht tragisch - im Gegenteil. Nur, wenn sie sich neu erfindet, hat sie eine Überlebenschance."

Bayreuther: Ich hoffe es - und nehme es auch so wahr, dass Corona ein Weckruf für die Kirchen war, in punkto Digitalisierung auf der Höhe der Zeit anzukommen. Investitionen, die die Kirche in diesem Bereich tätigt, sind sinnvoll. Ich hoffe, dass die Kirchen mutig genug sind, ihre angestammten Frömmigkeitsformen und Tätigkeitsprofile zur Disposition zu stellen. Denn ich rechne damit, dass die Kirche der Zukunft viel volatiler sein wird, dass sie sich mit jedem neuen Quantensprung der Technik neu erfinden wird. Das ist nicht tragisch - im Gegenteil. Nur, wenn sie sich neu erfindet, hat sie eine Überlebenschance.

KNA: Noch einmal zu Chat-GPT: Sehen Sie in dem Chatbot eine Chance etwa für den Seelsorge-Bereich?

Bayreuther: Ich arbeite selbst seit ein paar Wochen begeistert mit Chat-GPT, lasse mir zum Beispiel Kindergebete schreiben. Abends bete ich sie mit meinen Kindern und schaue, ob sie funktionieren. Es liegt auf der Hand, sich Predigten schreiben zu lassen oder eine Vorlage für seelsorgliche Gespräche. Gerade in schwierigen Gesprächen geht es darum, Unsicherheiten zu bewältigen, Wünsche und Ängste realistisch einzuschätzen, viele Aspekte miteinzubeziehen. Wenn der Chatbot auf diese Fragen tragfähige Antworten liefert, ist das durchaus hilfreich.

KNA: Aber viele Seelsorgerinnen und Seelsorger haben sicher Skrupel, sich ihre Arbeit von einem Chatbot abnehmen zu lassen.

Bayreuther: Diese Skrupel würde ich teilen, wenn man als Seelsorger sagt: Ich mache gar nicht mehr den Mund auf, sondern überlasse die Kommunikation der Maschine. Sinnvoll wird es, wenn Mensch und Maschine zusammenarbeiten. Wir Menschen sind lernende Systeme wie die KI auch: Wir haben von heute auf morgen neue Erfahrungen gesammelt, auf sinnliche Reize und auf unsere Umwelt reagiert. Wenn man Seelsorge als Aufgabe begreift, eine ungewisse Zukunft zu gestalten, kann das Ergebnis nur besser werden, wenn man möglichst viele Erfahrungen und Perspektiven einbezieht.

KNA: Was würden Sie sich für die öffentliche Debatte rund um KI und Co. wünschen?

Bayreuther: Offenheit und den Mut, sich auf die Dinge einzulassen. Nicht ich isoliert bin Gottes Schöpfung, sondern die ganze Welt inklusive mir. Von diesem Grundgedanken her kann man sich als Christ damit anfreunden, dass Gott auch durch eine KI und als KI am Werk ist.

Was ist Künstliche Intelligenz?

Der Begriff Künstliche Intelligenz (KI) wurde vor mehr als 60 Jahren geprägt durch den US-Informatiker John McCarthy. Er stellte einen Antrag für ein Forschungsprojekt zu Maschinen, die Schach spielten, mathematische Probleme lösten und selbstständig lernten. Im Sommer 1956 stellte er seine Erkenntnisse anderen Wissenschaftlern vor. Der britische Mathematiker Alan Turing hatte sechs Jahre zuvor bereits den "Turing Test" entwickelt, der bestimmen kann, ob das Gegenüber ein Mensch ist oder eine Maschine, die sich als Mensch ausgibt.

Symbolbild Künstliche Intelligenz / © maxuser (shutterstock)
Symbolbild Künstliche Intelligenz / © maxuser ( shutterstock )
Quelle:
KNA